Am Montag flog der Rabbi ab
hat ganz Recht», bestätigte Raymond. «Ich kann verstehen, dass Sie sich ihm verpflichtet fühlen würden, wenn er Sie gebeten hätte, zu kommen und seinen Platz einzunehmen. Auch wenn er Sie dem Vorstand empfohlen hätte, ohne Sie vorher zu konsultieren – das heißt, wenn er dem Vorstand Ihren Namen als den eines möglichen Kandidaten genannt hätte –, aber er hatte ja gar nichts damit zu tun. Als er uns sagte, er will einen langen Urlaub – und glauben Sie ja nicht, er hätte uns darum gebeten, er hat’s uns einfach mitgeteilt –, haben wir überlegt, was wir tun sollen. Es war im Vorstand sogar davon die Rede, überhaupt niemand zu engagieren, sondern einfach hin und wieder jemand vom Seminar kommen zu lassen.»
«Ich verstehe.» Rabbi Deutch legte den Kopf zurück und blickte zur Decke, während er den Fall erwog. Schließlich sagte er: «Trotzdem ist das Rabbinat kein Geschäft. Ich kann nicht die Abwesenheit eines Kollegen dazu ausnutzen, seine Stellung zu übernehmen, wie ein Kaufmann seinem Konkurrenten einen Kunden wegschnappen würde.» Er stand auf und begann im Zimmer umherzuwandern. Ihre Augen folgten ihm, wie Zuschauer ein Tennismatch beobachten. «Ich bin sehr glücklich hier gewesen. Das gebe ich offen zu. Und ich bin froh zu hören, dass meine Bemühungen nicht vergeblich gewesen sind. Es freut mich, von Ihnen zu erfahren, dass ich in der Gemeinde wohlgelitten bin. Das macht mich wirklich sehr glücklich. Nun nehmen wir einmal an, dass einige von Ihnen, selbst die Mehrheit, ja, selbst die ganze Gemeinde» – er blieb vor ihnen stehen und breitete die Arme weit aus, als wolle er die gesamte Gemeinde umschließen und ans Herz drücken – «infolge meiner größeren Erfahrung der Meinung ist, ich sei besser auf ihre Bedürfnisse eingestellt. Diese Formulierung ist wohl überlegt, weil ich keine Sekunde die Möglichkeit andeuten möchte, Rabbi Small könnte auf seine Weise nicht ebenso erfolgreich sein, wie ich es offenbar Ihrer Meinung nach auf die meine bin. Tja, also sogar dann erhebt sich die Frage, ob ich recht oder zumindest korrekt handle, seine Stellung auf Dauer zu übernehmen, wenn Rabbi Small damit gerechnet hat, nach seinen Ferien oder seiner Beurlaubung zurückzukommen.»
«Aber das ist ja gerade der springende Punkt», entgegnete Marty. «Das war kein gewöhnlicher Urlaub. Ich muss das schließlich wissen, denn ich bin derjenige, der das Ganze vereinbart hat. Und ich sag Ihnen, ich bin hingegangen und wollte mit ihm über den Vertrag reden. Nun war er ja fast sieben Jahre hier und hatte die ganze Zeit keinen Urlaub genommen, und da waren wir bereit, ihm ein Sabbatjahr zu geben. Aber Sie wissen ja, für ein Sabbatjahr muss man ’nen Vertrag haben. Ich will damit sagen, Sie können doch niemand ein Jahresgehalt oder meinetwegen ein Halbjahresgehalt auf den Tisch des Hauses legen, damit er nach Israel gehen kann, und hinterher sagt er Ihnen dann: ‹Tut mir Leid, Freunde, aber ich nehme bei einer anderen Gemeinde ’ne Stellung an.› Und er wollte ja nicht mal darüber reden.» Martys Stimme verriet seine Entrüstung. «Er hat es strikt abgelehnt, darüber zu sprechen. Na gut, er möchte also nicht über den Vertrag reden, aber was haben Sie vor, Rabbi? Wie lange möchten Sie wegbleiben? Sie wollen nach Israel gehen? Damit der Fall ein für alle Mal für Sie ausgestanden ist? Klar, kann ich verstehen. Ich nehme an, ein Rabbi muss wenigstens einmal nach Israel fahren, damit er sagen kann, er ist dort gewesen. Sie wollen drei Wochen oder sogar ’nen Monat freinehmen, ich bin sicher, das ließe sich einrichten. Aber nein, er will einen langen Urlaub, drei Monate, vielleicht auch mehr. Nun bin ich ja der Schatzmeister des Tempels. Ich verwalte das Geld, und ich bin der ganzen Gemeinde dafür verantwortlich, wie ich das Geld des Tempels ausgebe. Es ist schließlich nicht mein Geld. Ihnen gehört’s, der Gemeinde, und wenn ich mit fremdem Geld umgehe, muss ich ja vorsichtig sein. Ich meine … na, nehmen wir mal an, einer von der Gemeinde fragt mich, wie ich eigentlich dazu komme, das Geld des Tempels zu verschenken, wenn ich nicht mal weiß, kommt der Rabbi zurück oder nicht. Folglich muss ich kalkulieren, was der Gemeinde billigerweise zuzumuten ist. Und ich finde auch ’ne Lösung. Ich sage: ‹Okay, Rabbi, kalkulieren wir mal auf Urlaubsbasis. Sie sind sechs Jahre hier und ein bisschen darüber. Na gut, praktisch hat jeder Anspruch auf zwei Wochen Urlaub im Jahr. Das sind
Weitere Kostenlose Bücher