Am Montag flog der Rabbi ab
grausame Handlung unweigerlich schwere Gewissensbisse. Ist er jedoch ein Idealist, dann lässt sich jede Niedertracht im Namen des Idealismus rechtfertigen. Die Deutschen haben Millionen ermordet unter dem Vorwand einer so genannten Idee von der Reinerhaltung der Rasse. In Russland wurden Tausende hingemetzelt wegen einer durchaus menschlichen Schwäche, nämlich ein paar Vorräte für den Winter zu horten. Ich könnte hinzufügen, dass gerade jetzt etliche Ihrer Kommilitonen in Amerika alle möglichen Schlechtigkeiten begehen im Namen des Friedens oder der sozialen Gleichberechtigung oder der akademischen Mitverantwortung oder irgendeines anderen Ideals, das sich jemand ausgedacht hat.»
Sie diskutierten bis spät in die Nacht. Manchmal bewegte sich die Auseinandersetzung im Kreis, wie es häufig der Fall ist, und manchmal schweifte sie auf Gebiete ab, die gar nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun hatten. Die Kontrahenten waren größtenteils Roy und der Rabbi; Dan mischte sich gelegentlich ein, um seinem Sohn moralische Unterstützung zu geben. Der Sprengstoffanschlag auf Memavets Wohnung kam erst zur Sprache, als die Gäste aufbrechen wollten. Haifa wurde erwähnt, und Roy fragte seinen Vater, ob die Reise Erfolg gehabt habe.
«Doch, das möchte ich sagen, Roy. Und ich hoffe, du wirst meiner Meinung sein. Zufällig stellte ich fest, dass die Athenia im Hafen lag und Ladung übernahm. Ich bin recht befreundet mit dem Kapitän und habe ihn daher aufgesucht. Er war genauso nett wie immer und lud mich schließlich ein, mit ihm zu fahren – eine Zehn-Tage-Reise nach Griechenland, Sizilien und zurück nach Haifa –, und dich auch, Roy, falls du’s einrichten kannst. Na, wie findest du das?»
«Einfach Klasse, Dad. Wann geht’s los?»
«Am Sonntag ab Haifa …»
Roy schnalzte mit den Fingern. «Ach, du lieber Himmel, da fällt mir doch was ein.»
«Was ist los? Hast du ’ne Prüfung?»
«Nein, wir haben sogar Pause. Aber ich brauche dazu doch ’nen Pass, oder?»
«Selbstverständlich. Wo fehlt’s denn, hast du ihn verloren?»
« Ich hab ihn nicht verloren.» Und nun berichtete er, was passiert war. «Sie haben ihn verloren – einer von diesen Armleuchtern muss ihn verlegt haben», fügte er empört hinzu. «Und wenn sie ihn heute abgeschickt haben, krieg ich ihn morgen nicht, weil Sabbat ist und sie dann keine Post austragen. Und auch wenn er Sonntag kommt, hab ich ihn nicht vor Mittag, denn dann wird meine Post erst zugestellt.»
«Ich glaube, du wirst ihn auch am Sonntag nicht bekommen», sagte sein Vater langsam.
«Wieso denn nicht?»
«Weil … nun, die Polizei hier mag aus lauter Stümpern bestehen, selbst aus Armleuchtern, wie du sie nennst, aber bei Pässen irren sie sich nie – es sei denn, absichtlich.»
«Worauf willst du hinaus?» Roy fühlte sich ungemütlich.
«Du bist Montag vernommen worden? Oder Dienstag?»
«Dienstag.»
«Na, und heute ist Freitag. Das sind vier Tage, und du hast ihn immer noch nicht. Ich glaube, sie haben deinen Pass zurückbehalten. Und in einem Land wie diesem, das sich praktisch im Kriegszustand mit seinen Nachbarn befindet, könntest du ebenso gut im Gefängnis sitzen. Du kannst nirgendwohin, nicht mal in ein Hotel in einer anderen Stadt. Und sie können dich jederzeit abholen, wann es ihnen passt. Warum bist du nicht hingegangen, als er nicht mit der Post kam?»
«Hab ich ja gemacht. Heute früh war ich dort. Kein Mensch wusste was davon. Und als ich versuchte, mit dem Inspector zu sprechen, von dem ich dir erzählt hab, den mit der Jarmulke , da haben sie gesagt, er ist nicht da und wird auch nicht zurückerwartet.»
«Genau das hab ich befürchtet», murmelte sein Vater.
«Aber wenn Sie zum amerikanischen Konsul hier gehen, der wird doch sicher …», begann der Rabbi.
«Nein, das halte ich für keine sehr gute Idee. Vielleicht fahre ich am Sonntag nach Tel Aviv und spreche mit den Leuten von der Botschaft.»
«Aber dann wird’s ja zu spät für die Reise», protestierte Roy.
«Die können wir nachholen. Vielleicht, wenn er das nächste Mal ausläuft.»
Auf dem Heimweg vermied Dan absichtlich das Thema Polizei und Pässe. «Na, wie hat dir der Abend gefallen?», fragte er seinen Sohn.
«Gut. Ich mag den Rabbi gern.»
«Du hast dich doch die ganze Zeit mit ihm in den Haaren gehabt.»
«Das macht nichts», erklärte Roy. «Er hat sich nicht an mich rangeschmissen, wie’s ein paar von den Professoren tun. Die versuchen dauernd, sich mit uns
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