Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
noch keine Untersuchung der »Gesichtslosen« in Lévinas’ Werk, aber nehmen wir an, sie sei auf den Weg gebracht. Dass die Palästinenser für ihn gesichtslos bleiben (oder geradezu Paradigma des Gesichtslosen sind), führt in ein recht drastisches Dilemma, da Lévinas uns so viele Gründe zur politischen Wendung des Tötungsverbots gibt. So steht die messianische Tradition für ihn ausdrücklich im Gegensatz zu einer Politik der Vergeltung, und der Leser könnte leicht zu dem Schluss kommen, daraus ergebe sich für Lévinas eine nicht-nationalistische und möglichst gewaltfreie politische Haltung. Wo er sich gegen Vergeltung stellt, argumentiert er, es sei keine Gerechtigkeit in der Tötung derjenigen zu finden, die die uns Nächsten getötet haben, auch nicht in der Tötung derjenigen, von denen wir selbst getötet zu werden fürchten. Lévinas bemerkt, dass Gewalt im Namen der Gerechtigkeit zu einem Leid führt, das niemals als endgültiges Urteil dienen kann. Das ist eine merkwürdige Bemerkung, die genaue Betrachtung verdient. Leid ist kein »Zeichen des Urteils«, und es ist auch nicht der Akt, durch den das Urteil ergeht oder vollstreckt wird. Daher lässt sich weder das eigene Leiden als Urteil deuten noch kann man anderen Leid zufügen, als sei dieses Leid nur ein Urteil über das, was wahr und richtig ist. Lévinas scheint der Auffassung zu widersprechen, wer leidet, müsse etwas Unrechtes getan haben. Der Annahme der griechischen Tragödie steht eine spezifisch jüdische Sicht des Leids entgegen: Die Verbrechen der Geschichte treffen nicht immer die Unschuldigen; manchmal treffen sie auch die Schuldigen, aber wenn das geschieht, ist es Zufall, da die Ordnung des Urteils und die Ordnung des Leids (die zur Ordnung der Geschichte gehört) radikal voneinander verschieden sind: »Auch wenn die Verbrechen der Geschichte nicht immer Unschuldige treffen, so sind sie noch lange keine Urteile. Zu Unrecht begreifen wir die Kette der Gewalttaten, die die Zeit erfüllten, als Verdikte der Geschichte und die Geschichte selbst als Richter. Hillel wusste, dass die Geschichte nicht richtet.« 38 Kein Ereignis der Geschichte kann über ein Bewusstsein urteilen. Ganz gleich wie kalkuliert das Geschehen sein mag, die Ereignisse selbst sind »geistlos« und enthalten weder noch implizieren sie irgendeine Form des Urteils.
Für Lévinas scheint also der Messianismus mit dieser Tatsache zusammenzuhängen, dass die Geschichte kein Urteil kennt und kein Urteil kennen kann. Die Ordnung der Moral bekundet sich in keiner historischen Ereignisabfolge, und wir können historische Geschehnisse, ganz gleich wie schrecklich oder glücklich sie sind, nicht als Vollzug oder Offenbarung irgendwelcher moralischer Urteile betrachten. Und doch ergeht gleichsam ein Urteil über den Menschen, und es hat die Form einer unabweisbaren Bestimmung außerhalb von Chronologie und Geschichte, einer Bestimmung, die einer anderen Modalität als der historischen Zeit entstammt und dieser gegenüber vorzeitig ist. Man ist aufgerufen, ethisch zu reagieren, und dieser Aufruf ist die effektive Einwirkung des Messianischen auf das menschliche Leben. Ist der Messianismus mit einer Form des Wartens verbunden – Warten auf den Messias und, ja, Warten auf Gerechtigkeit –, so ist er zugleich ein Warten, das sich in der historischen Zeit nicht erfüllen kann. Der Messianismus unterscheidet sich von der Eschatologie. 39 Wartet man auf ein Urteil innerhalb der Zeit, wartet man auf das, was die Zeit niemals bringen kann. Wenn das Messianische einen Sinn hat, dann liegt er in der Unterbrechung der geschichtlichen Zeit durch etwas außerhalb der geschichtlichen Zeit. Benjamin scheint ähnlicher Auffassung gewesen zu sein, insbesondere in seinen Thesen »Über den Begriff der Geschichte«. Und Andeutungen in diese Richtung finden wir zweifellos auch bei Kafka.
Lévinas interpretiert in seinem Text »Das jüdische Denken heute« einen Kommentar Raschis, der eine Debatte von Talmudgelehrten schildert. Sie fragen: »Wie können wir wissen, wer der Messias ist?« Einer von ihnen kommt zu dem Schluss: »Ich könnte ebenso gut der Messias sein.« Raschi schweigt daraufhin und lässt die Frage im Raum stehen. Tatsächlich ist das eine Art Dauerfrage: Könnte ich der Messias sein? »Wer, ich?« ist also hier mit einem Fragezeichen versehen. Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten, sie lässt sich nur wiederholen, da jedes »ich«, das sie stellt, ein anderes
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