Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
der ein »Antlitz« besitzt, auf dasich antworten muss, was bedeutet, dass mir jegliche Vergeltung gleichsam unmöglich ist, weil ich eben in dieser responsiven Beziehung zu jenen anderen stehe, die ich mir nicht ausgesucht habe.
Natürlich ist es in gewisser Weise ein Ärgernis, ethisch verantwortlich für die zu sein, für die verantwortlich zu sein man sich nicht ausgesucht hat, aber Lévinas verweist hier auf Verbundenheiten mit dem Leben anderer, die jeder möglichen Wahl vorhergehen und jede mögliche Wahl durchkreuzen. Arendt entfaltet, wie bemerkt, eine ähnliche Position, nämlich dass das ungewollte Zusammenleben eine Bedingung unseres politischen Lebens ist und nicht etwas, das wir mutwillig zerstören dürfen. Niemand kann sich aussuchen, mit wem zusammen er die Erde bewohnt (hier lag Eichmanns grundlegender Irrtum). Für Lévinas gibt es Situationen, in denen die Antwort auf das »Antlitz« des anderen mit einem furchtbaren Gefühl einhergeht, mit einem Gefühl der Unmöglichkeit, Situationen, in denen man von einem kaum zu zügelnden Verlangen nach mörderischer Vergeltung beherrscht ist; der vorgängige und unwillentliche Bezug zum Anderen verlangt aber, dass wir weder dem Voluntarismus noch der impulsiven Aggression nachgeben, wie sie der egoistische Selbsterhalt verlangt. Das »Antlitz« übermittelt so ein striktes Verbot impulsiver Aggression gegen den Verfolger. In seinem Text »Ethik und Geist« schreibt Lévinas:
»Das Gesicht … ist unverletzlich; diese völlig schutzlosen Augen, der nackteste Teil des menschlichen Körpers, setzt indes dem Besitz einen absoluten Widerstand entgegen, in den sich die Versuchung zu morden einschreibt: die Versuchung einer absoluten Negation. Der Andere ist das einzige Sein, das zu töten man versucht sein kann. Diese Versuchung des Mordes und diese Unmöglichkeit des Mordes konstituieren die Wahrnehmung des Gesichts schlechthin. Ein Gesicht sehen heißt bereits hören: ›Du sollst nicht töten.‹ Und wer ›Du sollst nicht töten‹ hört, der hört: ›Soziale Gerechtigkeit‹.« (SF S. 18)
Bezieht sich die »Verfolgung« durch den Anderen auf alle uns aufgezwungenen Akte, besitzt sie doch für Lévinas eine buchstäblichere Bedeutung, wenn er von Verletzungen und schließlich vom Nazi-Völkermord spricht. Erstaunlicherweise heißt es bei ihm, dass das Ethische »im Trauma der Verfolgung« darin besteht, »von der erduldeten Schmach zur Verantwortung für den Verfolger und … vom Leiden zur Sühne für den Anderen« überzugehen. 41 Verantwortung entsteht also für den Verfolger, in Bezug auf den das zentrale Dilemma in der Frage liegt, ob man in Reaktion auf die Verfolgung töten darf oder nicht. Hier liegt gleichsam der Grenzfall des Tötungsverbots, der Fall, in dem das Tötungsverbot am fragwürdigsten erscheint.
1971 äußerte sich Lévinas explizit zur Bedeutung des Holocaust für seine Überlegungen zu Verfolgung und Verantwortung. Sicher war ihm klar, dass die Herleitung von Verantwortung aus der Verfolgung auf riskante Weise an die Position derjenigen erinnert, die die Juden und andere Opfer des Nazi-Völkermords für ihr Schicksal selbst verantwortlich machen. Lévinas stellt sich eindeutig gegen diese Position. Aber die Verfolgung ist für ihn dennoch eine bestimmte Art ethischer Schauplatz oder zumindest eine unersetzliche Dimension der Ethik. Er sieht die ganz besondere Verknüpfung von Verfolgung und Verantwortung im Kern des Judentums, ja als das Wesen Israels. Mit »Israel« meint er dabei ebenso zweideutig wie folgenreich sowohl das jüdische Volk wie das Land Palästina. Er formuliert kontrovers:
»Das Wesen Israels leitet sich von seiner eingeborenen [ innée ] Veranlagung zum unfreiwilligen Opfer her, von seiner Bedrohung durch Verfolgung. Wir denken hier nicht an eine mystische Sühne durch Israel. Verfolgt sein, schuldig sein, ohne ein Verbrechen begangen zu haben, ist keine Erbsünde, aber es ist die Kehrseite einer universellen Verantwortung, einer Verantwortung für den Anderen [ l’Autre ], die älter als jede Sünde ist. Es ist eine unsichtbare Universalität! Es ist die Kehrseite einer Wahl; durch sie erscheint das Selbst [ moi ], bevor es auch nur die Freiheit besitzt, seine Auserwähltheit anzunehmen. Es ist an den anderen zu entscheiden, ob sie das ausnutzen [ abuser ] wollen. Es ist am freien Selbst [ moi libre ], die Grenzen dieser Verantwortung zu ziehen oder die gesamte Verantwortung zu übernehmen. Aber es kann
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