Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
denen gemeinsam wir die Pflicht haben, einen Lebensmodus zu finden. Denn wer auch immer »wir« sind – wir sind auch die, die nicht ausgewählt wurden, die auf dieser Erde leben, ohne dass alle anderen dies billigen und die von Anfang an zu einer umfassenderen Bevölkerung und einer zukunftsfähigen Erde gehören. Eben daraus ergibt sich paradoxerweise das radikale Potenzial für ganz neue Formen von Gesellschaft und Politik jenseits des eifernden, unhaltbaren und verderblichen Kolonialismus, der sich selbst Demokratie nennt. In diesem Sinne sind wir alle nicht ausgewählt, aber wir sind es gemeinsam. Auf dieser Grundlage könnte man vielleicht anfangen, das soziale Band ganz neu zu denken.
Nicht nur Arendt, auch Levi, Martin Buber, Hans Kohn und andere haben das Narrativ infrage gestellt, das zum Legitimationsdiskurs des Staates Israel gehört. Gewiss brauchten jüdische und nichtjüdische europäische Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg eine Zuflucht, aber wie wir wissen, wurde damals durchaus darüber debattiert, wohin die Juden gehen und welche kulturellen Ziele sie verfolgen sollten. In seinem Buch Shadow of the Holocaust bewahrt Yosef Grodzinsky ein wichtiges Archiv der Auseinandersetzungen in den Abschiebelagern zur politischen Ideologie und zur Frage des Zionismus. 26 Er argumentiert, manche Juden seien durch wirtschaftliche und sonstige Zwänge zur Emigration nach Palästina veranlasst worden und viele dieser Emigranten seien nicht notwendig überzeugte Zionisten gewesen. Die Auseinandersetzungen in den Lagern zwischen Juden und Zionisten waren aber langwierig und intensiv. Manche traten für die Aufhebung der von Amerika und Großbritannien verhängten Einwanderungsquoten ein, andere wollten lieber nach Europa zurück und wieder andere zog es in die kommunistischen Länder. Und wie wir wissen, kam es zu harten Kämpfen zwischen exilierten Juden um die Frage, ob es in Palästina einen föderalen Staat geben sollte, eine binationale Lösung, eine Nationengemeinschaft unter internationaler Verwaltung oder einen Staat auf der Grundlage jüdischer Souveränität, der effektiv die Mehrheitsherrschaft der jüdischen Einwohnerschaft garantieren würde. Wie Idith Zertal und andere Historiker gezeigt haben, wurde aber seit 1948 das narrative Muster immer weiter zementiert, sodass jeder »vernünftige« Mensch nun annimmt, der Völkermord der Nazis an den Juden habe zur Gründung des Staates Israel geführt, und zwar aufder Basis jüdischer Souveränität, wie sie von David Ben Gurion vertreten wurde, verbunden mit der militärischen Durchsetzung des Siedlerkolonialismus und mit der Nakba , der katastrophalen Zerstörung der Heimat der Palästinenser.
In diesem Punkt herrscht tatsächlich große Verwirrung. Da die Staatsgründung auf dieser Basis als historische Notwendigkeit zum Schutz des jüdischen Volkes begriffen wird, wird nun vielerorts angenommen, jegliche Kritik an Israel trage zur Delegitimierung des Staates bei und strebe die Umkehr dieser historischen Kausalität und die Preisgabe des jüdischen Volkes und damit einen neuerlichen Nazi-Völkermord an. Begreifen wir diese Geschichte indes angemessen als historische und politische Gründungskatastrophe, die sich kontingenterweise gerade an diesen Schauplätzen und in dieser Staatsbildung vollzog, können wir vielleicht auch anfangen, außerhalb dieser starren Narration zu denken. Eine Behauptung in diesem Kontext lautet, ein Staat sei auf diesem Gebiet notwendig gewesen oder Rechte in anderen Territorien für die Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland hätten in anderen Gebieten gewährleistet werden müssen; eine andere Behauptung geht dahin, es sei ein Staat in einem für die Juden sicheren Gebiet erforderlich gewesen (nicht notwendig ein politisch-zionistisches Argument, aber eines, das die Sicherheit der Juden über die Belange aller sonstigen Flüchtlinge stellt); und eine dritte These behauptet, es habe einen Staat geben müssen, der die jüdische Selbstverwaltung auch auf Kosten der palästinensischen Einwohner sicherstellte. Und schließlich könnte man vor dem vollständigen Hintergrund des Nazi-Völkermords und der durch ihn ausgelösten traumatischen Vertreibungen argumentieren, die überlebenden Juden seien Flüchtlinge und die Rechte von Flüchtlingen müssten rechtlich und politisch abgesichert werden. Aber auch daraus folgt nicht, dass die Ansprüche einer Flüchtlingsgruppe in einem rechtlichen Rahmen garantiert werden müssen, der eine
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