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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Butler
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dieses ahistorische »Schicksal« seine Argumentation für den Zionismus als historische und zeitgenössische Realität. Wenn dieses Schicksal notwendig und ahistorisch ist, dann ist es nicht dasselbe wie die Geschichte als arbiträre Abfolge und Feld von Zufällen, getrennt von der Ordnung von Urteil und Moral. Der Bezug auf die Absurdität des menschlichen Geschehens soll so die Idee zerstreuen, historisches Leid sei eine Form moralisch notwendigen »Urteils« über jene, die leiden. Und doch wird der Zionismus zum »Schicksal«, das eine gewisse Notwendigkeit in der Geschichte ausübt.
    Damit stellt sich die kritische Frage: Ist der Zionismus eine historisch geprägte Bewegung und ein historisch geprägter Komplex von Glaubensüberzeugungen und Praktiken, oder ist er ein ahistorisches »Schicksal«, das sich in der Geschichte kraft einer Art Notwendigkeit wiederholt? Ist er historisch, gibt es für ihn keinen moralischen Grund; ist er jedoch ahistorisch, stellt er eine moralische Notwendigkeit dar, die die geschichtliche Zeit durchzieht und ihren Sinn außerhalb jeder Geschichte hat. Ganz ähnlich stellen wir fest, dass Lévinas’ Beschreibungen der ethischen Beziehung eine Enteignung des Selbst erfordern, der seine Beschreibungen des Zionismus entgegenstehen, in denen er sich auf etablierte Konzepte von Autonomie und Identität und auf die Überwindung der Enteignung der Juden beruft (nicht jedoch auf die Überwindung der Enteignung für alle, außer soweit der Jude implizit universell und damit eine privilegierte Form des Partikularismus ist). So schreibt er beispielsweise: »Der Zionismus und die Schaffung des Staates Israel bedeuten für das jüdische Denken eine Rückbesinnung in allen Bedeutungen des Wortes sowie das Ende einer Jahrtausende alten Entfremdung.« (SF S.   122) Und obgleich Messianismus als eine bestimmte Indifferenz gegenüber der Geschichte beschrieben worden war, löst sich nun der Zionismus vom Messianismus, was zu Problemen in Interpretationen wie der von Jacqueline Rose ( The Question of Zion ) führt, die eine starke Verbindung herstellen zwischen der messianischen Überlieferung und zionistischen Strategien der politischen Selbstlegitimierung. 40 Bei Lévinas heißt es etwa: »Während man jahrhundertelang die Nichtteilnahme der geistigen Persönlichkeit Israels an der Weltgeschichte mit seiner Lage als verfolgte Minderheit entschuldigte – nicht alle Welt hat das Glück, reine Hände zu haben, weil sie verfolgt wird –, ist der Staat Israel die erste Gelegenheit, dadurch in die Geschichte einzugreifen, dass er eine gerechte Welt verwirklicht.« (SF S.   122)
    Worin liegt aber diese Gerechtigkeit, die der Staat Israel bringen soll? Für Lévinas handelt es sich eindeutig um eine Gerechtigkeit, die dem Beispiel des im Partikularismus verkörperten Universalismus Form gibt, was bedeutet, dass dieses Volk, die Juden, den Universalismus als ihr besonderes Schicksal durch die Zeit tragen. Dieser Universalismus, diese Gerechtigkeit, »zieht in die Geschichte ein«, was darauf verweist, dass sie synchron einem nicht-geschichtlichen Bezug entspringt und irgendwie in das Historische oder Diachronische übergeht.
    Worin besteht diese ethische Beziehung? Und ist Lévinas der Auffassung, die spezifische Aufgabe Israels sei die Artikulation und der Schutz dieses Modus des Ethischen? Man darf nicht vergessen, dass unsere gewöhnliche Vorstellung von Verantwortung in Lévinas’ Formulierung verändert wird. Wir tragen Verantwortung für das Leiden des Anderen nicht nur, wenn wir es offensichtlich verursacht haben. Anders gesagt sind wir verantwortlich nicht nur für unsere eigenen eindeutigen Entscheidungen und deren Auswirkungen. Diese Handlungen sind natürlich ein wichtiges Element der Verantwortung, aber in ihnen zeigt sich noch nicht deren eigentlich fundamentale Struktur. Nach Lévinas bekräftigen wir die Unfreiheit im Herzen unserer Beziehungen zu anderen und können erst dadurch überhaupt begreifen, was Verantwortung ist. Anders ausgedrückt kann ich meine Beziehung zum Anderen nicht verleugnen, ganz gleich, was der andere tut, ganz gleich auch, was mein eigener Wille sein mag. Tatsächlich ist Verantwortung keine Frage der Kultivierung eines Willens (wie für die Kantianer), sondern der Anerkennung einer unwillentlichen Empfänglichkeit als Quelle der Offenheit für den Anderen. Was auch immer der Andere getan hat – er bleibt derjenige, der eine ethische Forderung an mich richtet,

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