Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
leben, ohne einer identitären Einkapselung zu verfallen. Hier steht Said der ethischen Position von Lévinas vielleicht näher als der Bubers. Für Lévinas wird das Subjekt durch den anderen konstituiert; auch wenn er dabei manchmal den »unendlich« anderen im Sinn hat, steht für ihn doch fest, dass diese Unendlichkeit sich im Antlitz kundtut, im Antlitz eines anderen Menschen, das einen unendlichen Anspruch in sich enthält. Die andere Person ist, so könnte man sagen, »dort« und ist »nicht ich«; sie ist damit eine »Alterität« in einem klar lokalisierbaren Sinn. Zugleich – und das muss irgendwie zusammen gedacht werden – konstituiert mich dieser andere auch und bin ich von innen her zerrissen durch diesen ethischen Anspruch, der als Konstitutionsbedingung meiner selbst zugleich und irreduzibel »dort« und »hier« ist.
Diese Position ist eine andere als die von Bubers »Ich-Du«, die von getrennten Identitäten ausgeht, von kulturellen Unterschieden, die sich jedoch in Dialog und Kooperation zusammenfinden. Lévinas geht von einer Asymmetrie der Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Anderen aus und auch davon, dass der Andere immer schon in mir ist; er ist mir nicht nur als Teil assimiliert, sondern bleibt unassimilierbar als der, der meine eigene Kontinuität unterbricht und ein »autonomes« Selbst gegenüber einem »autonomen« Anderen verunmöglicht. Die Lévinas’sche Position würde – ernst genommen – trotz oberflächlicher Ähnlichkeiten tatsächlich Bubers Konzeption des Dialogs zunichtemachen. Was ich sagen will, ist, dass die Lévinas’sche »Unterbrechung« durch den Anderen, die Konstitution des Selbst auf der Basis des immer schon vorhergehenden Aufbrechens des Anderen im Herzen meiner selbst, eine Kritik des autonomen Subjekts und jener Vorstellung des Multikulturalismus impliziert, die von autonom konstituierten Kulturen ausgeht, deren Aufgabe dann darin besteht, in Dialog mit anderen Kulturen zu treten. Für Lévinas gibt es eine Heterogenität noch vor meinem Sein, durch die das autonome Subjekt, das ich zu sein scheine, permanent dezentriert wird. Sie kompliziert auch permanent die Frage des Ortes: Wo beginne und ende »ich« und welches sind die lokalisierbaren Parameter des »Anderen«? Diese Auffassung steht Said in mancher Hinsicht merkwürdigerweise näher als Buber. Die Interkulturalität in Saids Sicht auf Moses scheint hier die radikalere Alternative zu sein.
Tatsächlich ging ich zunächst davon aus, die stärkste jüdische Aussage über eine ethische Pflicht gegenüber dem Anderen bei Lévinas zu finden, da eine solche Verpflichtung hier nicht zufällig sein, sondern aus der Konstitution des Subjekts durch die und in der Alterität folgen würde. Lévinas für eine linke Politik in Anspruch zu nehmen heißt dabei, ihn gegen seinen eigenen Zionismus und gegen seine Weigerung zu lesen, anzuerkennen, dass die Palästinenser einen legitimen ethischen Anspruch an das jüdische Volk erheben. Philosophisch entwirft Lévinas einen ethischen Schauplatz, in dem wir in den meisten Situationen verpflichtet sind, das Leben der Anderen zu bewahren – verpflichtet durch die Alterität, der wir hier begegnen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass dieser Schauplatz, der uns universell zu verpflichten scheint, kulturell und geografisch begrenzt ist. Die ethische Verpflichtung gegenüber dem Antlitz des Anderen ist keine, die man gegenüber jedem Antlitz empfindet oder empfinden kann. Derrida sagt denn auch in einem Vortrag an der University of California in Irvine, dass man unvermeidlich verantwortungslos würde, hätte man tatsächlich auf die Forderung eines jeden Antlitzes einzugehen. Wenn dem so ist, geht der ethische Anspruch bestimmten Vorstellungen kultureller Autonomie nicht vorher, sondern ist vielmehr von vornherein durch bestimmte Vorstellungen von Kultur, Ethnizität und Religion eingerahmt und begrenzt. Das hat ganz konkrete Implikationen für das Verständnis des Gebotes »Du sollst nichttöten«. Für Lévinas ist das Gewaltverbot auf jene beschränkt, deren Antlitz eine Forderung an mich erhebt, und doch sind diese »Antlitze« durch ihren jeweiligen religiösen und kulturellen Hintergrund differenziert. Damit stellt sich die Frage, ob es eine Pflicht zur Bewahrung des Lebens jener gibt, die nach dieser Sicht »gesichtslos« erscheinen oder die, um diese Logik weiterzutreiben, wegen ihrer Gesichtslosigkeit erst gar nicht in Erscheinung treten.
Wir kennen
Weitere Kostenlose Bücher