Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Antwort auf sie weder möglich noch verpflichtend.
Eine verpflichtende Antwort würde indes verlangen, dass wir Saids Position als die einer anderen politischen Zukunft verstehen als die, für welche Lévinas explizit steht. Der Andere ist nicht einfach weit jenseits der Grenze, die ihrerseits gewaltsam gezogen wurde und verteidigt wird, und es gibt keine Trennmauer, die die ethische Forderung löschen könnte, auf das Leiden des Anderen zu reagieren. Wie haben wir eine solche Responsivität über eine Grenze hinweg zu denken, die Bevölkerungsgruppen auseinanderhalten, ihre Mischung verhindern und einen ganzen Bevölkerungsteil gesichtslos machen soll? Buber konnte sich eine solche Trennmauer nicht vorstellen, auch wenn ihm klar war, dass es immer Menschen geben würde, die gegen ein »Zusammenleben« sind. Nun jedoch, da das »Getrenntleben« mit Gewalt durch Polizei und Mauern erzwungen wird – wie sollen wir nun die Verpflichtung durch den Anderen denken, wenn sein Antlitz buchstäblich nicht mehr sichtbar ist, wenn die Medien es nicht zeigen, wenn Haaretz mitdrastischen Fotos Geld für die Armen in Israel sammelt, nicht aber für diejenigen, die in den mit Polizeigewalt bewachten Grenzen von Gaza an Unterernährung leiden und deren Leid systematisch ausgeblendet wird? Sicher lag Buber nicht ganz falsch mit der Annahme, dass sich politische Bündnisse aus dem außerinstitutionellen gemeinsamen Leben und Arbeiten ergeben könnten und dass solche Bündnisse als Grundlage und Modell kooperativer Assoziationen dienen könnten, die sich um gewaltfreie und gerechte Lösungen scheinbar unlösbarer Konflikte bemühen. Solche Gemeinschaftsformen – zweisprachige Bildungseinrichtungen, zweisprachige Theaterproduktionen, kooperative Widerstandsbewegungen – zu schaffen ist eminent wichtig, aber das größere Problem hat mit jener Gesichtslosigkeit zu tun, die in den dominierenden Medien zur Norm geworden ist. Wenn die Zugehörigkeit zur israelischen Nation Voraussetzung ethischer Relevanz ist, kann es kein ethisches Verhalten gegenüber denen geben, die sich außerhalb der Mauern des Nationalstaates befinden; dann gibt es auch keinen Anderen, und das bedeutet, dass der ethische Anspruch ausgelöscht wurde. Buber hielt ferner eine Koexistenz innerhalb einer Struktur des Kolonialismus für möglich, die das Recht der Juden auf noch mehr Landanspruch bekräftigt. Seine Haltung – binational, kolonialistisch und kulturell zionistisch – spukt immer noch in jenen Koexistenzprojekten herum, die ihre Arbeit innerhalb einer Struktur kolonialer Unterdrückung fortsetzen wollen. Nur mit der Überwindung der kolonialen Unterdrückung wird aber Koexistenz denkbar.
Was könnte jedoch die Kolonisatoren zu einer Neuorientierung an Grundsätzen der Gleichheit und sozialen Pluralität bewegen? Said denkt an ein ethisches und politisches Bündnis, das nur möglich ist, wenn der jeweilige Nationalismus überwunden, die Grenze in den Mittelpunkt der Analyse gerückt und eine Dezentrierung des nationalistischen Ethos ermöglicht wird. Ich würde hinzufügen, dass es darauf ankommt, ob es sich dann um den Nationalismus eines militarisierten Nationalstaates oder um den Nationalismus jener handelt, die nie einen Staat hatten. Und doch könnten wir hier ansetzen, um über eine mögliche künftige Nation (Israel, Palästina oder Israel-Palästina) und darüber nachzudenken, wie deren Verpflichtung gegenüber der eigenen Bevölkerung mit der Verpflichtung zur Kohabitation mit anderen verknüpft werden muss.
Nationen
Was würde die praktische Überwindung des Nationalismus, die Bestreitung seiner Ansprüche, das Denken und Fühlen außerhalb seiner Reichweite bedeuten? Wäre das in etwa, was Said als Aufrechterhaltung einer diasporischen Bedingung für eine neue Politik wichtig war, einer Politik, in der Identität nie vollständig zu sich selbst zurückkehrt und in ein Beziehungsnetz verwoben bleibt, das Differenz nicht auslöschen oder zu einer simplen Identität zurückkehren kann? Es geht nicht nur darum festzustellen, dass, was ich bin, von einem »Du« abhängt, das ich nicht bin; ich muss darüber hinaus einsehen, dass schon meine Bindungsfähigkeit, ja meine Fähigkeit zu Liebe und Rezeptivität eine grundlegende Enteignung dieses »Ich« erfordert. Ich würde sagen, dieser Gedanke ist radikaler als Bubers Konzeption von Ich und Du. Er gehört eher einem diasporischen Lévinas an, wie wir ihn auf interessanteste Weise im Werk Edward
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