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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Butler
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zu Israel als problematisches, ja inakzeptables Ideal und als problematische und inakzeptable politische Formation. Die Behauptung, Verfolgtsein bilde das Wesen des Judentums, verdeckt nicht nur Taten und Aggressionen, die im Namen des Judentums begangen wurden, sondern blockiert auch eine kulturelle und historische Analyse, die wegen dieser behaupteten singulären vorontologischen Bedingung komplex und spezifisch wäre, einer Bedingung, die als universell begriffen und als übergeschichtliche und definierende Wahrheit des jüdischen Volkes identifiziert wird.

Wer hat ein Antlitz?
    Was ist in diesem Text von Lévinas mit dem Antlitz geschehen? Wo ist sein humanisierender Zug, wo sein Gebot zur Offenheit gegenüber dem gefährdeten Leben des Anderen, wo seine Forderung nach meiner eigenen Dislozierung in einer Bezüglichkeit, die immer den Anderen an die erste Stelle rückt? Plötzlich taucht da eine Gestalt nicht des Antlitzes, sondern einer gesichtslosen Horde auf, und diese Horde droht nicht nur mich zu verschlingen, sondern ein kollektives »wir«, das sich, ganz entgegen dem Verständnis des Messianismus, in der historischen Lage findet, ganz allein oder mit dem ihm verwandten Christentum den Geist des Universalismus selbst zu tragen. Keine Rede ist hier vom Islam, kein Araber erscheint namentlich, nur etwas unbestimmt Asiatisch-Gesichtsloses, das mit Einkreisung droht, das jene bedroht, deren auserwählte Ausgabe das Weitertragen der Universalität ist und das damit die Universalität selbst bedroht. Vom Antlitz dieses Anderen kann kein Gebot ergehen, denn dieser Andere, gesichtslos, wie er ist, droht die gesamte Tradition, der das Antlitz entstammt, zu unterminieren, das gesamte Erbe des Gebotes selbst.
    Hier wird die aschkenasische Annahme erkennbar, die im Hintergrund von Lévinas’ Schauplatz der Ethik steht, die Vorstellung, dass die wesentliche jüdische Geschichte die Geschichte des europäischen Judentums ist und nicht die der Sephardim (mit ihrer Abkunft von den spanischen und portugiesischen Juden) oder der Mizrahim (die aus nordafrikanischen und arabischen jüdischen Kulturen stammen). Und was wir zwischen den Zeilen oder am Ende dieser Zeilen ebenfalls lesen, ist ein offenes Argument für die jüdische Mehrheitsherrschaft in Israel. Seine Angst vor dem Verschlungenwerden ist genau die Angst vieler Israelis vor möglichen Folgen der Machtteilung oder Kohabitation. Und jeder Begriff des Zionismus als Philosophie der Kohabitation gerät hier aus dem Blick. Ganz offen spricht Lévinas vom »Ausnahmeschicksal« der Juden und wendet sich gegen den Islam als »gegründete Religion«, das heißt als Religion, die von einem charismatischen Führer stammt, dem gedankenlose Völker zu Gebote standen. Diese Behauptung über die Minderwertigkeit des Islam kann Lévinas abernur aufstellen, indem er vergisst, dass auch das Judentum gegründet wurde, und zwar von Moses, einem Ägypter.
    Diese Vergesslichkeit ist folgenreich. Daher muss man sich hier an Freud wenden, der das nicht vergessen hat, aber auch an Said, der daran erinnert, dass das Judentum, wenn es Sinn hat, diesen Sinn durch seine Gründungsimplikation in dem hat, was nicht jüdisch ist. Die »hungrigen Horden«, die Lévinas fürchtet, die aufzustehen und das jüdisch-christliche Fundament der »Zivilisation« zu zerstören drohen, wie er sie begreift, sind für Said die Menschen in Not, die Enteigneten und Vertriebenen, mit denen das diasporische Judentum eine ethische Solidarität verbindet. Paradoxerweise ist es Said, der in einem solchen Moment zum nicht-europäischen Begründer des Judentums wird oder jedenfalls zu demjenigen, der dafür plädiert, das Judentum wieder in sein konstitutives Verhältnis zu denen zu setzen, die nicht jüdisch sind. Denken wir an seinen Verweis auf den unbehausten und diasporischen Charakter des jüdischen Lebens, das er »in unserer Zeit der massiven Bevölkerungsverschiebungen« mit »Flüchtlingen, Exilierten, Expatriierten und Immigranten« in Verbindung bringt (FNE S.   66f.). Vor solchen »Horden« will Lévinas das Judentum schützen; für Said sind diese Bevölkerungen hingegen eben jene, die ethische und politische Ansprüche an uns erheben, auf welche die Juden, die in der Geschichte Verfolgung und Vertreibung erlitten haben, mit guten Gründen nach Kräften eingehen sollten. Diese Responsivität scheint Lévinas mit dem Ethischen gemeint zu haben, aber wenn die Horden »gesichtslos« sind, ist eine

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