Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Exkulpation von der Schuld ist). In den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« verbindet er das Messianische mit dem Kampf um die Rettung der Geschichte der Unterdrückten vor dem erzwungenen Vergessen. Es gibt bei Benjamin nicht die Lehre vom Messianischen. Am besten gehen wir von der Feststellung aus, dass das Messianische ein gegendoktrinärer Versuch des Bruchs mit zeitlichen Herrschaftsregimes ist, die Schuld, Gehorsam und umfangreiche Rechtsgewalt hervorbringen und die Geschichte der Unterdrückten verschleiern. Das Messianische scheint bei Benjamin zunächst zugunsten des Vergessens zu wirken, um später dann dem Vergessen entgegenzuwirken – aber das liegt daran, dass die Geschichte der Schuld nicht dieselbe ist wie die Geschichte der Unterdrückung. Je klarer Benjamin sieht, dass man sich gegen die Auslöschung der Geschichte der Unterdrückung wenden muss, desto klarer wird er sich auch darüber, dass dieser Widerstand nicht der Erweiterung der Welt der Schuld zugutekommen darf. Die Schuldigen sind vielmehr diejenigen, die an einer Form von Gesetz und Gewalt festhalten, die die von ihr verursachten Zerstörungen verschleiert hat und weiterhin verschleiert. Das Messianische ist also die Zersprengung dieser bestimmten Chronologie und Geschichte, um in zerstreuter Form jene Überbleibsel vergangenen Leids zu sammeln, die uns indirekt helfen, zugleich moralisch und physisch gewaltsame Herrschaftsformen zu überwinden.
Zur Betrachtung von Benjamins »Kritik der Gewalt« ist es sinnvoll, von der scheinbar elementarsten Frage auszugehen: Welchen Sinn gewinnt der Begriff der Kritik, wo die Kritik zur Kritik der Gewalt wird? Eine Kritik der Gewalt fragt nach den Bedingungen der Gewalt, aber sie fragt auch nach Vorfestlegungen des Begriffs durch unsere spezifischen Fragestellungen. Was ist also unter Gewalt zu verstehen, wenn wir diese Frage aufwerfen können; und müssen wir nicht zuvor schon wissen, wie wir diese Frage beantwortenkönnen, bevor wir – was notwendig ist – nach den legitimen und illegitimen Formen der Gewalt fragen können? Für mich bietet Benjamins Essay eine Kritik der Rechtsgewalt, jener Gewalt, die der Staat durch Einsetzung und Aufrechterhaltung der Bindung seiner Untertanen an das Recht ausübt. 68 Benjamin behandelt hier mindestens zwei verschiedene Komplexe. Zunächst wirft er die Fragen auf: Wie wird Rechtsgewalt möglich? Was ist Recht, wenn es Gewalt oder zumindest bindenden Zwang über die Rechtssubjekte erfordert? Aber er fragt auch: Was ist Gewalt, wenn sie diese Rechtsform annehmen kann? Mit dieser Frage wird eine zweite Linie der Gedankenführung eröffnet: Gibt es eine andere Form der Gewalt, eine Gewalt, die nicht zwingend ist, ja die sich gegen den Gesetzeszwang in Anspruch nehmen lässt? Benjamin geht noch weiter und fragt: Gibt es eine Gewalt, die nicht nur gegen die Zwangsausübung in Anspruch genommen werden kann, sondern die selbst ohne Zwang und in diesem – und nicht nur in diesem – Sinn gewaltlos ist? Benjamin spricht von einer »unblutigen« Gewalt, womit eine Gewalt angesprochen scheint, die sich nicht gegen den menschlichen Körper und das menschliche Leben richtet. Wie wir noch sehen werden, bleibt letztlich unklar, ob Benjamin diese Fragen beantworten kann. Gelänge ihm das, ergriffe er Partei für eine Gewalt, die Zwang zerstört, ohne mit Blutvergießen einherzugehen. Damit wäre die paradoxe Möglichkeit einer gewaltlosen Gewalt erwiesen, eine Möglichkeit, der ich in Benjamins Essay nachgehen möchte.
Benjamins Text ist von berüchtigter Schwierigkeit. Er enthält zahlreiche Unterscheidungen, mit denen wir immer nur kurz zu tun zu haben scheinen, um sie anschließend wieder fallenzulassen. Es gibt hier zwei Gruppen von Unterscheidungen, mit denen man arbeiten muss, will man Benjamins Gedankenführung verstehen. Die erste Unterscheidung ist die zwischen »rechtsetzender« und »rechtserhaltender« Gewalt. Die rechtserhaltende Gewalt wird von den Gerichten und von der Polizei ausgeübt und besteht in der wiederholten und institutionalisierten Sicherstellung der bindenden Kraft des Rechts für die Bevölkerung, die ihm unterliegt; sie zeigt sich in der alltäglichen Durchsetzung des Rechts als bindendes. Anders die rechtsetzende Gewalt. Recht wird gesetzt, wenn eine politische Ordnung entsteht und Gesetze formuliert werden; es kann jedoch auch ein Prärogativ des Militärs im Umgang mit einer aufständischen Bevölkerung sein. Interessanterweise kann
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