Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
eines ihrer Gliedmaßen amputiert worden ist.« 45
Etwas später, nachdem sich der Ton mehrmals geändert hat, fragt sie ihn:
»›Was träumst du so normalerweise?‹
›Normalerweise träume ich gar nicht. Und du, was träumst du?‹
›Dass ich aufhöre, dich zu lieben.‹
›Liebst du mich denn?‹
›Nein, ich liebe dich nicht. – Weißt du eigentlich, dass deine Mutter Sarah meine Mutter Hagar in die Wüste gejagt hat?‹
›Da kann ich doch nichts dafür. Und deshalb liebst du mich nicht?‹
›Du kannst nichts dafür. Und deshalb liebe ich dich nicht – oder liebe ich dich doch.« 46
Diese letzte Zeile birgt ein Paradox. Ich liebe dich nicht. Oder ich liebe dich. Wie haben wir diese konjunktive Disjunktion zu verstehen? Sie drückt zugleich Nähe und Aversion aus; die Frage bleibt offen; die Äußerung ist nicht die eines einheitlichen Bewusstseins. Man könnte sie als Affekt sehen, als emotionalen Tenor einer unmöglichen und notwendigen Vereinigung, als merkwürdige Logik, in der man gehen möchte und doch darauf beharrt zu bleiben. Gewiss ist der Binationalismus nicht Liebe, aber es gibt doch gewissermaßen eine notwendige und unmögliche Bindung, die der Identität Hohn spricht, eine Mehrdeutigkeit, die sich aus der Dezentrierung des nationalistischen Ethos ergibt und die Grundlage für einen dauerhaften ethischen Anspruch bildet. Etwas Ungelöstes, die Unruhe der Ambivalenz, die diasporischen Bedingungen einer neuen Politik, eine unmögliche Aufgabe und damit eine umso notwendigere. 47
Kapitel 3
Walter Benjamin und die Kritik der Gewalt 66
Um etwas über Walter Benjamins Haltung zum Zionismus zu erfahren, könnte man sich seine langen Diskussionen mit Gershom Scholem ansehen. Mir geht es hier aber weniger um bestimmte Fragen Benjamins zum Zionismus aus den 1920er und 1930er Jahren als vielmehr um seine Gedanken zur Gewalt und insbesondere zur Gewalt des Rechts. Es ist bekannt, dass Scholem Benjamin zur Auswanderung nach Palästina und zum Erlernen des Hebräischen überreden wollte, worauf Benjamin aber letztlich nicht einging. Scholem besorgte sogar ein Stipendium der Hebräischen Universität für ihn; mit dem Geld reiste Benjamin nach Russland, ohne sich gegenüber den Geldgebern weiter zu erklären. Wichtiger vielleicht als Benjamins ambivalentes Verhältnis zum Zionismus sind seine Kritik der staatlichen Gewalt und seine Ansichten zu Geschichte und Unterdrückung. In diesem und dem nächsten Kapitel versuche ich nachzuvollziehen, wie Benjamin sich jüdischer und nicht-jüdischer Quellen bedient, um (a) eine Kritik der Rechtsgewalt zu entwickeln – der Art von Gewalt, die Staaten mit ihrer Rechtsstruktur ausüben; und um (b) jene Formen progressiver Geschichtsschreibung zu kritisieren, für die sich im Verlauf der Zeit ein Ideal verwirklicht – mit deutlichen kritischen Konsequenzen für den Zionismus. Seine Haltung zeigt zunächst, dass sich das Recht nicht als Alternative zur Gewalt behandeln lässt, wirft aber auch die Frage auf, unter welchen Bedingungen sich unkritischer Gehorsam gegenüber ungerechten Regimes verweigern lässt. Zweitens verdeutlicht seine Position den Gedanken, wonach das Messianische die Geschichte umformt; hier konzentriert sich Benjamin auf die Möglichkeit, die Geschichte der Unterdrückten zu schreiben, und zwar ohne nationale Beschränkung und indem die Unterdrückung über Grenzen von Raum und Zeit hinweg schlaglichtartig verdeutlicht wird.
Das Messianische nimmt in Benjamins Werk unterschiedliche Formen an und wandelt sich im Laufe seiner Überlegungen zu diesem Begriff. 67 In seinem frühen Text »Über die Malerei oder Zeichen und Mal« neigt er zueinem Verständnis des Messianischen als nicht-sinnlichem Bedeutungskern, der indes das Feld des Sinnlichen gestaltet, und richtet sein Augenmerk auf die Übertragbarkeit und Zerstreuung des »Namens«. In »Die Aufgabe des Übersetzers« ist Gegenstand der Betrachtung, wie das Messianische einen gewissen Bruch in der Möglichkeit der Übertragung herbeiführt, verdeutlicht am viel diskutierten »zerbrochenen Gefäß«, das sich nicht mehr zu seiner ursprünglichen Einheit zusammensetzen lässt. Einige dieser frühen Überlegungen befassen sich zwar mit dem Messianischen als Form der Versöhnung, einer Versöhnung, die das Vergessen der Zeichen der Schuld verlangt; in Zur Kritik der Gewalt (1921) geht es dann aber um die messianische Kraft der göttlichen Gewalt als Bruch mit der Rechtsgewalt (die immer auch
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