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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Butler
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Kulturen« begründet werden. Er behauptet, dass man ethisch nicht den Hunger anderer anprangern kann, nur um dann fortzufahren: »Doch unter den gierigen Augen dieser unzähligen Menschenmengen, die hoffen und leben wollen, werden wir anderen, Juden wie Christen, an den Rand der Geschichte gedrängt, und bald wird sich niemand mehr die Mühe machen, einen Katholiken von einem Protestanten und einem Juden und einen Juden von einem Christen zu unterscheiden.« Selbst der Marxismus, fährt er fort, dessen Universalismus diese Religionen einst in eine neue Einheit zusammengeführt haben würde, wird sich »in der Dichte dieser fremden Zivilisationen und dieser undurchdringlichen Vergangenheiten verlieren« (SF S.   123). Er ruft zu einer neuen Bindung zwischen Christen und Juden auf, um gegen den Aufstieg dessen vorzugehen, »was nur als Barbarentum bezeichnet werden kann«.
    Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass Lévinas unschlüssig ist hinsichtlich der vorontologischen Bedeutung der »Verfolgung« (assoziiert mit einem Zusammenprall vor jeder Ontologie) und einer vollen ontologischen Bedeutung, die das »Wesen« eines Volkes definieren soll. Ganz ähnlich heißt es dann ergänzend am Ende des Absatzes, die »ursprüngliche Verantwortung« sei mit diesem Judentum verbunden, und hier scheint klar, dass diese ursprüngliche und damit vorontologische Verantwortung dasselbe ist wie das Wesen des Judentums. Soll hierin ein spezifisches Merkmal des Judentums liegen, kann diese Verantwortung kein spezifisches Merkmal aller Religionen sein, und Lévinas stellt das auch klar, wenn er vor allen religiösen Überlieferungen warnt, die »sich nicht mehr auf unsere Heilige Geschichte beziehen und denen Abraham, Isaak und Jakob nichts mehr bedeuten« (SF S.   123). Lévinas bietet hier in der problematischen Gleichsetzung mit Israel als nur Verfolgtem, aber niemals Verfolgendem eine unplausible und empörende Darstellung des jüdischen Volkes; man kann ihn jedoch gleichsam gegen sich selbst lesen und zu einem anderen Schluss gelangen. Lévinas’ Worte sind geprägt von Verletzungen und Zorn und stellen ein ethisches Dilemma für die Leser dar. Lévinas grenzt eine bestimmte religiöse Tradition als Bedingung ethischer Verantwortung ein und stellt damit andere Traditionen als Bedrohung des Ethischen dar, aber wir sollten hier gleichsam auf einer Begegnung von Angesicht zu Angesicht bestehen, eben hier, wo Lévinas behauptet, das sei unmöglich. Obgleich oder vielleicht gerade weil seine Worte so verletzend sind, tragen wir Verantwortung für ihn, auch wenn der Bezug sich in seiner Einseitigkeit als schmerzhaft erweist.
    Verfolgt sein, sagt er, ist die Kehrseite einer Verantwortung für den Anderen. Beides hängt im Tiefsten zusammen, und wir erkennen die objektive Entsprechung dazu in der Doppeldeutigkeit des Antlitzes: »Diese Versuchung des Mordes und diese Unmöglichkeit des Mordes konstituieren die Wahrnehmung des Gesichts schlechthin.« Verfolgt werden kann zum Mord führen, sogar zur Verschiebung der mörderischen Aggression auf die, die uns überhaupt nicht die Verletzungen zugefügt haben, für die wir Vergeltung suchen. Eine ethische Forderung entsteht für Lévinas aber gerade aus der Vermenschlichung des Antlitzes: Dieser eine, den ich in Verteidigung meiner selbst zu töten versucht bin, ist »einer, der seine Forderung an mich erhebt und mich so davon abhält, selbst zum Verfolger zu werden«. Man kann einerseits argumentieren, Verantwortung entstehe aus der Situation des Verfolgtwerdens – ein bezwingender und kontraintuitiver Gedanke insbesondere, wenn Verantwortung nicht bedeutet, dass man sich als Verursacher des Angriffs eines anderen sieht. Wenn man aber behauptet, eine historisch konstituierte Gruppe von Menschen sei per definitionem immer Verfolgter und nie Verfolger, scheint damit nicht nur die ontologische und die vorontologische Ebene verwechselt, sondern auch der Weg freigegeben für eine unakzeptable Unverantwortlichkeit und einen uneingeschränkten Rückgriff auf Aggression im Namen der »Selbstverteidigung«. Tatsächlich haben die Juden eine kulturell komplexe Geschichte, die das Leiden an Antisemitismus, Pogrome und Konzentrationslager mit über sechs Millionen Ermordeten einschließt. Aber es gibt auch die Geschichte religiöser und kultureller Überlieferungen und Praktiken – viele davon vorzionistisch –, und es gibt eine Geschichte, irritierender als gewöhnlich zugegeben, der Beziehung

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