Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
dies nur im Namen jener ursprünglichen Verantwortung, im Namen dieses Judentums.« 42
Diese Äußerung ist aus vielerlei Gründen komplex und problematisch, nicht zuletzt wegen der direkten Analogie zwischen dem Leid der Juden unter dem Nazismus und dem Leid Israels, verstanden sowohl als Land wie als Volk, zwischen 1948 und 1971, dem Zeitpunkt der Niederschrift der zitierten Stelle. Die Gleichsetzung des Schicksals Israels und der Juden ist an sich selbst schon kontrovers, weil sie sowohl die diasporische wie die nicht-zionistische Tradition des Judentums übergeht. Wichtiger noch ist, dass man eindeutig nicht behaupten kann, nur der Staat Israel sei in dieser Zeit Opfer von Verfolgung gewesen, wenn man an die massive und gewaltsame Vertreibung von über 750.000 Palästinensern aus ihren Häusern und Dörfern allein 1948 denkt, ganz zu schweigen vom andauernden Krieg, der Besatzung und den sogenannten außergesetzlichen Tötungen, denen in den nachfolgenden Jahren Tausende Palästinenser zum Opfer gefallen sind. Es ist merkwürdig und problematisch, wie Lévinas hier »Verfolgung« von ihren konkreten historischen Erscheinungsformen löst und zum vorgeblich zeitlosenWesen des Judentums macht. Schließlich verweist er auf den Nazi-Versuch der Ausrottung der Juden Europas als historisches Ereignis und muss das auch unzweideutig tun, um jeden Revisionismusverdacht auszuschließen. Wenn »Verfolgung« nun das »Schicksal« der Juden kennzeichnet und damit zur wiederkehrenden und ahistorischen Dimension ihrer Existenz wird, lässt sich jedes historische Argument dahingehend, dass sich die Juden nicht immer in einer Situation der Verfolgung befunden haben, allein schon aus der Definition heraus abweisen: Juden können per definitionem nicht Verfolger sein, Juden sind die Verfolgten. Diese Zuschreibung der Verfolgung als notwendiges und definierendes Identitätsmerkmal »Israels« scheint auch durch seine Auffassung der vorontologischen Struktur des Subjekts bestätigt. Wenn die Juden als »auserwählt« eben deshalb gelten, weil sie eine Botschaft der Universalität transportieren, und wenn »universell« für Lévinas die ursprüngliche Strukturierung des Subjekts durch Verfolgung und ethischen Anspruch ist, wird der Jude zum Modell und Beispielfall dieser vorontologischen Verfolgung. Entsprechend ist der Jude nicht länger geschichtlich. Tatsächlich liegt das Problem darin, dass »Jude« eine Kategorie im Rahmen einer geschichtlich und kulturell konstituierten Ontologie ist (sofern dieser Begriff nicht für den Zugang zum Unendlichen selbst steht); bleibt also der Jude »auserwählt« in Bezug auf ethische Responsivität, ergibt sich daraus in Lévinas’ Werk eine durchgängige Unklarheit in Hinblick auf das Präontologische, das Ontologische und das Historische. Der Jude ist weder Teil der Ontologie noch der Geschichte – er kann nicht als in die Ordnung der historischen Zeit gehörig verstanden werden; und dennoch bildet gerade diese Dispensierung den Ausgangspunkt für Lévinas’ Behauptungen in Bezug auf Israel, das, obgleich selbst historisch entstanden, für immer und ausschließlich Verfolgter und per definitionem niemals Verfolger sein soll. In der Folge sollen wir dann diesen historischen politischen Staat als zeitlos Verfolgten betrachten und nicht als Staat mit einer spezifischen Geschichte (zu der auch die Verfolgung der Palästinenser gehört), mit einer Gegenwart (zu der auch die von ihm zu verantwortende Zahl von beinahe einer Million Flüchtlingen im Libanon gehört) und mit einer Reihe möglicher Zukunftsperspektiven (zu denen auch der Versuch der Überwindung der Politik der Vergeltung und der unendlich selbstlegitimierenden Behauptungen des Verfolgtseins in Richtung auf eine neue Konzeption der Bezüglichkeit gehören könnten, die nicht Verfolgung zur Voraussetzung hat und die die Verfolgung nicht immer weiter fortschreibt).
Die gleiche Konfusion beider Sphären wird auch in anderen Kontexten deutlich, in denen Lévinas behauptet, Judentum und Christentum bildeten die kulturellen und religiösen Voraussetzungen ethischer Bezüglichkeit überhaupt und in denen er mit unverhohlenem Rassismus warnt, dass »der Aufstieg der zahllosen Massen unterentwickelter asiatischer Völker [ des masses innombrables de peuples asiatiques ]« die »wiedergefundene Authentizität« des jüdischen Universalismus bedroht (SF S. 123). Dies wiederum entspricht seiner Warnung, Ethik könne nicht auf »exotischen
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