Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
nicht um Reformen der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, sondern um die Auflösung der gesamten Rechtsgrundlage eines gegebenen Staates. Benjamin verbindet Sorels Position mit einem messianischen Denken, das seiner eigenen Haltung zugleich eine theologische und politische Dimension verleiht. Die göttliche Gewalt entbindet nicht nur von erzwungener oder gewaltsamer Rechenschaftspflicht; diese Entbindung ist darüber hinaus eine Sühnung von Schuld und Widerstand gegen zwingende Gewalt. All dies könnte nun Befürchtungen dahingehend auslösen, dass das Ergebnis nur Anarchismus oder die Herrschaft des Pöbels sein kann – aber hier sind doch einige Überlegungen zu berücksichtigen. Benjamin fordert nirgendwo Widerstand gegen sämtliche Rechtssysteme, und aus seinem Text wird nicht klar ersichtlich, ob er sich gegen ganz bestimmte Rechtssysteme wendet, gegen andere hingegen nicht. Wenn er sich an dieser Stelle mit dem Anarchismus einlässt, ist zudem erst einmal zu fragen, was Anarchismus in diesem Kontext bedeuten könnte, und es ist daran zu erinnern, dass Benjamin das Gebot »Du sollst nicht töten« sehr ernst nimmt. Paradoxerweise denkt Benjamin an die Entbindung von der Rechenschaftspflicht gegenüber dem Gesetz und an die Entbindungvon der Schuld als Möglichkeit, des Leids und der Flüchtigkeit im Leben, des Lebens als einer Tatsache gewahr zu werden, die sich nicht immer durch den Rahmen der moralischen oder rechtlichen Rechenschaftspflicht erklären lässt. Diese Aufmerksamkeit für Leid und Vergänglichkeit birgt für ihn eine Art Glücksmöglichkeit. Nur unter Bezug auf seinen Begriff des Messianischen wird erkennbar, wie das Augenmerk auf das Leid – ein Leid, das zur Sphäre des Lebens gehört und nicht durch moralische Rechenschaftspflicht erklärlich ist – zu einer Art Glück führt oder eine Art Glück darstellt. Ich werde später in einer abschließenden Betrachtung zu Benjamins »Theologisch-politischem Fragment« auf seinen Begriff des Glücks zurückkommen.
Benjamin bediente sich bei der Arbeit an diesem Essay mehrerer Quellen, unter ihnen Sorels Über die Gewalt , Hermann Cohens Ethik des reinen Willens und Scholems kabbalistischer Forschungen. Er arbeitete in zwei Richtungen gleichzeitig, eine theologische und eine politische. Auf der einen Seite legt er die Bedingungen für einen Generalstreik dar, der zur Lähmung und Auflösung eines ganzen Rechtssystems führen sollte; auf der anderen Seite geht es ihm um einen heiligen Gott, dessen Gebot nicht auf das Recht und seinen Zwang reduzierbar ist. Die beiden Schichten von Benjamins Essay sind nicht immer leicht in Einklang zu bringen. Für manche steht hier die Theologie im Dienst einer Theorie des Streiks, während der Generalstreik für andere nur ein Beispiel oder eine Analogie göttlicher Zerstörungskraft ist.
Wichtig scheint aber, dass die göttliche Gewalt durch ein Gebot übermittelt wird, das weder despotisch ist noch Zwang ausübt. Wie Franz Rosenzweig vor ihm stellt Benjamin das Gebot als eine Art Gesetz dar, das weder bindend noch durch Rechtsgewalt durchsetzbar ist. 69 Unter Rechtsgewalt verstehen wir die Gewalt, die die Legitimität und Durchsetzbarkeit der Gesetze sichert, das System der Bestrafungen für den Fall von Gesetzesverstößen, Polizei- und Militärgewalt zum Schutz eines Rechtssystems sowie die rechtliche und moralische Rechenschaftspflicht, die jeden einzelnen zur Gesetzestreue und sogar dazu zwingt, seinen Status als Bürger aus seinem Bezug zum Recht herzuleiten.
Benjamin formuliert seine Kritik der staatlichen Gewalt interessanterweise im Zuge einer Neubetrachtung der biblischen Gebote, insbesondere des Gebots: »Du sollst nicht töten«, wobei diese staatliche Gewalt besonders deutlich im Militär als zugleich Recht schaffende und Recht durchsetzende Institution zutage tritt. Wir kennen das göttliche Gebot in seiner Form als Imperativ zum Handeln und ausgestattet mit Strafen im Fall der Missachtung. Benjamin hingegen zieht ein anderes, jüdisches Verständnisdes Gebots heran, nach dem der Imperativ des Gesetzes strikt von seiner Durchsetzbarkeit getrennt ist. Das Gebot enthält einen Imperativ ohne die Fähigkeit, dessen Befolgung auch durchzusetzen. Im Gebot verschafft sich nicht ein zorniger und rachsüchtiger Gott Gehör; das jüdische Gesetz ist dieser Auffassung zufolge dezidiert kein strafendes. Zudem wird das dem jüdischen Gott zugeschriebene Gebot hier der Schuld entgegengesetzt, ja es strebt
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