Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
das Militär je nach Kontext sowohl eine rechtsetzende wie eine rechtserhaltende Kraft sein; wir werden darauf zurückkommen, wenn wir die Frage aufwerfen, ob es noch eine andere Gewalt gibt, eine dritte Möglichkeit derGewalt jenseits der und im Gegensatz zur rechtsetzenden und rechtserhaltenden Gewalt.
Die Akte der Instituierung des Rechts sind selbst nicht mehr gerechtfertigt durch anderes Recht oder durch Berufung auf eine Vernunft vor der Kodifizierung des Rechts; und Recht entsteht auch nicht auf organische Weise durch die langsame Weiterentwicklung kultureller Sitten und Normen zu positivem Recht. Ganz im Gegenteil schafft die Rechtsschöpfung erst die Bedingungen für Verfahren der Rechtfertigung und Abwägung. Sie tut dies gleichsam per Erlass, und ebendies gehört zur Gewalt ihres Gründungsaktes. Tatsächlich bündelt sich die Gewalt der rechtsetzenden Gewalt in der Feststellung: »Das wird in Zukunft Recht sein« oder, noch drastischer: »Das ist jetzt Recht«. Diese Rechtsgewalt (die rechtsetzende Gewalt) gilt Benjamin als »Schicksal«, ein Begriff, der für ihn eine ganz spezifische Bedeutung besitzt. Schicksal ist eine Vorstellung der hellenischen Mythensphäre und die rechtserhaltende Gewalt ist in vieler Hinsicht Nebenprodukt dieser rechtsetzenden Gewalt, da das zu erhaltende Gesetz ja das zuvor instituierte ist. Die Tatsache, dass sich das Recht nur durch Wiederholung seiner Bindungskraft erhalten lässt, zeigt, dass es nur dadurch »erhalten« wird, dass es wieder und wieder als bindend behauptet wird. So scheint das Modell der rechtsetzenden Gewalt als Schicksal, als Erlass, am Ende der Mechanismus zu sein, dessen sich auch die rechtserhaltende Gewalt bedient.
Am Militär als Modell einer zugleich rechtsetzenden und rechtserhaltenden Gewalt scheint sich die innere Verknüpfung beider Gewaltformen zu zeigen. Denn ein Gesetz erhalten bedeutet, seinen bindenden Charakter immer wieder zu behaupten. Diese Bekräftigung macht das Recht erneut bindend und wiederholt so in regulierter Weise den Gründungsakt. Darüber hinaus wird hier ersichtlich: Würde sich das Recht nicht auf diese Weise stetig erneuern und erhalten, könnte es nicht weiter wirksam sein und keine weitere Bindungskraft erlangen. Dieser Schauplatz des Zusammenbruchs des Rechts wäre eben das Militär, denn das Militär scheint jene Institution zu sein, die exemplarisch Recht zugleich erhält und durchsetzt; damit ist die Institution des Militärs der Schauplatz, an dem das Recht gleichsam arretiert, in seiner Arbeit gestört, ja als solches zerstört werden kann.
Zum Verständnis der Gewalt sowohl in der rechtsetzenden wie in der rechtserhaltenden Form müssen wir noch eine weitere Gewalt ins Auge fassen, die sich nicht als »Schicksal« oder griechische oder »mythische Gewalt« begreifen lässt. Mythische Gewalt setzt Recht ohne jede Rechtfertigung. Erst nachdem Recht gesetzt ist, können wir überhaupt über Rechtfertigung sprechen. Entscheidend ist die Setzung ohne Rechtfertigung, ohne Bezug auf Rechtfertigungsgründe, auch wenn diese Setzung in der Folge Rechtfertigung erst möglich macht. Zunächst ist das Subjekt an das Recht gebunden, dann entsteht ein Rechtsrahmen zur Rechtfertigung der Bindungskraft des Rechts. Es entstehen also Subjekte, die vor dem Gesetz zur Rechenschaft gezogen werden können und durch diese Rechenschaftsfähigkeit definiert sind. Dieser Rechtssphäre – der rechtsetzenden und der rechtserhaltenden Gewalt – stellt Benjamin eine »göttliche Gewalt« gegenüber, die auf eben jenen Rahmen der Rechenschaftspflicht vor dem Gesetz zielt. Die göttliche Gewalt erhebt sich gegen den Zwang dieses Rechtsrahmens, gegen die Rechenschaftspflicht, die das Subjekt an ein bestimmtes Rechtssystem bindet und es an der Entwicklung einer kritischen, wo nicht revolutionären Haltung gegenüber diesem Rechtssystem hindert. Wenn ein Rechtssystem überwunden werden muss oder seine Zwänge zur Revolte der unter ihm Leidenden führen, müssen diese Bande der Rechenschaftspflicht unbedingt durchtrennt werden. Eben das rechte Verhalten gemäß dem etablierten Recht ist dann auszusetzen, um einen etablierten Rechtsrahmen zu überwinden, der selbst ungerecht ist.
So argumentierte Georges Sorel in seinen Réflexions Sur La Violence – ein Buch, das starken Einfluss auf Benjamins Überlegungen zum Generalstreik hatte, zu dem Streik also, der zur Auflösung eines ganzen Staatsapparates führt. Nach Sorel geht es im Generalstreik
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