Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
diesem Sinn seiner heiligen Vergänglichkeit. Denn die Ewigkeit der Vergänglichkeit bedeutet, dass die Vergänglichkeit nie an ein Ende kommt und dass der Untergang den Rhythmus allen Lebens prägt. Benjamin geht es also nicht um die Verteidigung des Lebens gegen den Tod; vielmehr findet er im Tod den Rhythmus, ja das Glück des Lebens, ein Glück, das die Entbindung des Subjekts von der Schuld verlangt, das zur Auflösung dieses Subjekts selbst, seines versteinerten Daseins führt.
In seinen frühen Schriften hatte Benjamin von einer »kritischen Gewalt«, ja von einer »erhabnen Gewalt« in der Kunst gesprochen. 81 Was am Kunstwerk lebendig ist, richtet sich gegen die Verführung der bloßen Schönheit. Nur als erstarrtes Überbleibsel des Lebens kann das Kunstwerk von einer gewissen Wahrheit zeugen. Die Tilgung des schönen Scheins erfordert die Tilgung der Ähnlichkeit, die das Schöne hervorbringt, und die Tilgung der Schuld erfordert die Tilgung der Male; sowohl Zeichen wie Male müssen schließlich erstarren, damit das Kunstwerk seine Wahrheit bekunden kann. Diese Wahrheit muss Sprache werden, sie muss Wort im absoluten Sinn werden (was sich als problematisch in Hinblick auf das visuelle Feld im Unterschied zum sprachlichen erweist). Das Wort in Benjamins Sinn verleiht dem Erscheinenden seine Einheit, ohne selbst in Erscheinung zu treten; es konstituiert eine Idealität, die der Sphäre der Erscheinung als deren ordnendes Moment innewohnt.
In »Zur Kritik der Gewalt« ist das Wort Gebot, das Gebot, nicht zu töten, aber dieses Gebot kann nur empfangen werden, wenn es als eine Art Idealität verstanden wird, die die Sphäre der Erscheinung ordnet. 82 Das Heilige am Vergänglichen findet sich nicht außerhalb des Vergänglichen, ist aber auch nicht auf bloßes Leben zu reduzieren. Wenn das »bloße Leben« durch die heilige Vergänglichkeit überwunden werden muss, bedeutet das, dass das bloße Leben keine Begründung für das Tötungsverbot bietet. Im Gegenteil richtet sich das Gebot an das Heilige und Vergängliche im menschlichenLeben, den Rhythmus des Messianischen, wie Benjamin sagt, der erst eine zwanglose Auffassung menschlichen Handelns ermöglicht. Er scheint der Auffassung, der Begriff einer außermoralischen Vergänglichkeit erlaube ein Gewahrwerden menschlichen Leids, das die Grenzen der auf dem Schuldbegriff basierenden Moral aufzeigt, die Metalepsis einer moralischen Kausalität, die zu Lähmung, Selbstvorwürfen und endloser Trauer führt. Doch etwas von der endlosen Trauer scheint Benjamin doch zu bewahren. Schließlich bedauert Niobe nur, was sie getan hat, aber sie betrauert, was sie verloren hat. Die Vergänglichkeit übersteigt die moralische Kausalität. So lassen Niobes Tränen uns möglicherweise den Übergang von der mythischen zur göttlichen Gewalt verstehen.
Niobe rühmt sich größerer Fruchtbarkeit als Leto; daraufhin sendet Leto Apollo aus, um ihre sieben Söhne zu töten. Niobe brüstet sich weiter, und Leto sendet Artemis, um ihre sieben Töchter zu töten (eine Tochter, Chloris, heißt es auch, überlebte). Niobes Gatte nimmt sich das Leben und Artemis verwandelt Niobe in einen Fels – in einen Fels allerdings, aus dem in Ewigkeit Tränen strömen. Man könnte sagen, dass Niobe ihre Bestrafung selbst verursacht hat und der überheblichen Ruhmsucht schuldig ist. Tatsache bleibt jedoch, dass Leto die Strafe ersann und die Ermordung von Niobes Kindern befahl. Es waren auch Letos Kinder Apollo und Artemis, die ihre Rechtsgewalt umsetzten und sie damit im Nachhinein legitimierten. Erst mit dieser Strafe erscheint das Recht, indem es das schuldige und strafwürdige Subjekt hervorbringt, das seinerseits die rechtsetzende Gewalt zugleich verschleiert und verwirklicht. Wenn göttliche Gewalt an der Erschaffung des Rechts unbeteiligt ist und vielmehr durch seine Kraft der Entsühnung das Messianische aufbietet, dann würde die göttliche Gewalt auch das bestrafte Subjekt von der Schuld entbinden.
Wie würde die Entsühnung Niobes aussehen? Können wir uns das vorstellen? Würde Gerechtigkeit in diesem Fall eine Mutmaßung verlangen, die Eröffnung der Möglichkeit der Hypothese? Wir können uns nur vorstellen, dass sich der Fels in Wasser und ihre Schuld in endlose Tränen auflösen würden. Die Frage wäre dann nicht mehr, durch welche Tat sie eine solche Strafe verdient hat, sondern welches Strafsystem ihr eine solche Gewalt angetan hat. Wir können uns vorstellen, dass sie erneut
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