Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
die Stimme gegen die Brutalität des Gesetzes erhebt, und wir können uns vorstellen, wie sie zornig die Schuld ihrer Überheblichkeit gegenüber dieser Gewalt von sich weist und endlos über die verlorenen Leben der Ermordeten trauert. Wenn diese Trauer endlos ist, ist sie vielleicht sogar ewig, ihr eigener Verlust und Teil des »Untergangs«, der ihren Verlust mit dem Rhythmus der Destruktion verknüpft, die das Heilige und die Möglichkeit des Glücks im Leben birgt.
Es bleiben zahlreiche Vorbehalte gegen Benjamins Argumentation in diesem frühen Essay. Er sagt uns nicht, ob Widerstand gegen jegliche Rechtsgewalt Pflicht ist, ob er bestimmte zwangsweise Einschränkungen für die Gewalt der Machthabenden befürworten würde und ob Subjekte dem Staat überhaupt in irgendeiner Weise verpflichtet sein sollten. Benjamin bietet keinen Plan für die Zukunft, nur eine andere Sicht auf die Zeit. Der Essay endet mit einem Akzent auf Zerstörung eher denn auf Verwandlung und äußert sich zur Zukunft nicht. Das heißt aber nicht, dass es keine Zukunft geben kann. An früherer Stelle hatte er bemerkt, dass der proletarische Generalstreik für Sorel mit einer Art der Gewalt einhergeht, die »als reines Mittel gewaltlos« ist. Er erläutert: »Denn sie geschieht nicht in der Bereitschaft, nach äußerlichen Konzessionen und irgendwelcher Modifikation der Arbeitsbedingungen wieder die Arbeit aufzunehmen, sondern im Entschluss, nur eine gänzlich veränderte Arbeit, eine nicht staatlich erzwungene, wieder aufzunehmen, ein Umsturz, den diese Art des Streikes nicht sowohl veranlasst als vielmehr vollzieht.« (KG S. 194)
Dieser vollziehende Umsturz verknüpft den Generalstreik mit der göttlichen Gewalt. Auch diese bricht mit Zwängen und eröffnet einen Zeitsinn ohne teleologische Struktur und Vorhersage. Insbesondere durchkreuzt das Messianische die teleologische Entfaltung der Zeit (der Messias wird nicht in der Zeit erscheinen). Das Messianische bringt die Entsühnung, die Ersetzung von Schuld, Vergeltung und Zwang durch eine weiter gefasste Konzeption des Leids in Bezug zu einer ewigen oder wiederkehrenden Vergänglichkeit. In diesem Sinn nötigt uns Benjamins Kritik der Rechtsgewalt, zunächst von unserem mitgebrachten Verständnis von Leben, Verlust, Leid und Glück abzusehen, nach dem Zusammenhang von Leid, »Untergang« und Glück zu fragen und zu sehen, welchen Zugang die Vergänglichkeit zum Heiligen am Leben eröffnet, um der Abstumpfung des Lebens und der Auferlegung endloser Verluste durch staatliche Gewalt zu widerstehen. Heilige Vergänglichkeit könnte sehr wohl das Prinzip bilden, an dem uns deutlich wird, was am bloßen Leben des Schutzes vor staatlicher Gewalt wert ist. In ihr könnte auch der Grund dafür zu suchen sein, weshalb das Gebot »Du sollst nicht töten« keine theologische Basis revolutionärer Akte, sondern vielmehr die nicht-teleologische Grundlage der Würdigung des Wertes des Lebens ist. Wird das erlittene Leid als wiederholter, ja ewiger Rhythmus des Untergangs begriffen, folgt daraus, dass das eigene Leid in einem sich wiederholendenRhythmus des Leidens aufgehen kann, dass man nicht mehr und nicht weniger als alle anderen von ihm betroffen ist und dass sich die Perspektive der ersten Person dezentrieren lässt und damit Schuld und Vergeltung überwinden lassen. Wenn dieser andauernde Untergang dem Leben seine Rhythmen des Glücks gibt, dann wäre das ein Glück, das in keiner Weise nur mein eigenes wäre.
Benjamins Ausführungen lassen vielleicht zudem die Bedingungen der Kritik deutlich werden, denn man muss die Perspektive des positiven Rechts bereits verlassen haben, um die Gewalt infrage stellen zu können, die ihm Legitimation und Selbsterhalt garantiert. Das Recht legitimiert die in seinem Namen begangene Gewalt und Gewalt ist es, kraft derer sich das Recht instituiert und legitimiert. Dieser Zirkel wird durchbrochen, wenn das Subjekt die Ketten des Rechts abwirft oder sich ihrer plötzlich ledig findet oder wenn die Menge den Platz des Subjekts einnimmt und in Auseinandersetzung mit einem anderen Gebot von dezidiert nicht-despotischer Kraft die Umsetzung der Rechtsforderungen verweigert. Das Individuum, das sich mit dem Gebot auseinandersetzt, wird der Bevölkerung angeglichen, die sich zum Generalstreik entschließt – beide wehren sich gegen Zwang und üben damit eine deliberative Freiheit aus, die allein Grundlage menschlichen Handelns ist. Benjamin hält fest, dass ein solcher
Weitere Kostenlose Bücher