Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Anders gesagt verhängt das Schicksal ein Leid, das anschließend durch das Gesetz dem Subjekt als eigene Verantwortung zugeschrieben wird.
Das heißt natürlich nicht, dass es keine Verantwortlichkeit gibt oder geben sollte. Ganz im Gegenteil. Benjamin geht es hier zumindest um dreierlei: Erstens will er zeigen, dass Verantwortung zu begreifen ist als einsame, wo nicht anarchische Auseinandersetzung mit einer ethischen Forderung; zweitens, dass erzwungener Gehorsam die Seele tötet und die Möglichkeit unterminiert, mit der ethischen Forderung zurande zu kommen; und drittens geht es ihm um den Nachweis, dass der Rahmen der rechtlichen Verantwortung dem menschlichen Leid in seinem ganzen Ausmaß weder gerecht werden noch es beheben kann. Das Leid, von dem Benjamin spricht, ist koextensiv mit dem Leben; es kann letztlich nicht im Leben selbst behoben werden und es gibt für dieses Leid keine angemessene kausale oder theologische Erklärung. Es gibt einfach keinen guten Grund für dieses Leiden, und es wird sich im Lauf der Zeit auch kein solcher Grund zeigen. Das Messianische vollzieht sich an eben diesem Punkt, an dem der Untergang ewig scheint.
Im »Fragment« führt der fortwährende Untergang menschlichen Glücks zur ewigen Vergänglichkeit. Das bedeutet nicht, dass es nichts anderes als Untergang gibt; es heißt nur, dass der Rhythmus der Vergänglichkeit sich immer weiter wiederholt, ohne an ein Ende zu gelangen. Was gemeinhin Unsterblichkeit heißt, entspricht nach Benjamins Auffassung einer weltlichen Restitution, »die in die Ewigkeit des Unterganges führt und der Rhythmus dieses ewig vergehenden, in seiner Totalität vergehenden, in seiner räumlichen, aber auch zeitlichen Totalität vergehenden Weltlichen, der Rhythmus der messianischen Natur, ist Glück.« (Ebd. S. 204) Für Benjamin ergibt sich Glück aus dem Innewerden dieses Rhythmus der Vergänglichkeit. Ja die rhythmische Dimension des Leidens wird zur Basis des paradoxen Glücks, mit dem es verbunden ist. Wenn der Rhythmus des Messianischen Glück ist und im Gewahrwerden der Vergänglichkeit aller Dinge besteht, ist dieser Rhythmus, der Rhythmus der Vergänglichkeit selbst, ewig, und es ist eben dieser Rhythmus, der das innere Leben des Leidenden mit dem Ewigen verbindet. Damit scheint jener eingeschränkte Sinn von Leben erklärt, der mit dem Gebot ins Spiel kommt. Es handelt sich nicht um das Gegenteil des »bloßen Lebens«, da dieses ja gewiss durch Vergänglichkeit gekennzeichnet ist, sondern um das bloße Leben, erfasst als Rhythmus der Vergänglichkeit. Damit eröffnet sich eine ganz andere Perspektive als die des sündhaften Lebens, der Schuld, die uns an das Recht bindet und der notwendigen Gewalt des Rechts gegenüber dem Leben.
Es besteht also eine Art Korrelation zwischen innerem Leben und einem Leid, das ewig und nicht auf das Leben dieser oder jener Person begrenzt ist. Das innere Leben, nunmehr verstanden als Leid, ist auch die nicht verallgemeinerbare Bedingung der Auseinandersetzung mit dem Gebot, nicht zu töten; auch wenn gegen das Gebot verstoßen wird, muss es erlitten werden. In dieser Auseinandersetzung und diesem Leiden in der Einsamkeit liegt zugleich der Sinn des Anarchismus, der zu zerstörerischen Schlägen gegen das Zwangsrecht führt. Das Zwangsrecht sucht alles Leid in Fehlverhalten und alles Unglück in Schuld zu verwandeln. Indem die Rechenschaftspflicht über Gebühr erweitert wird, überwältigt das positive Recht indes das Leben und seine notwendige Vergänglichkeit, sein Leid sowohl wie sein Glück. Es verwandelt seine Subjekte in klagenden Stein. Indem das positive Recht ein Subjekt schafft, das für sein Leid selbst verantwortlich ist, schafft es ein in Schuld verstricktes Subjekt, das Verantwortung für nicht seinem Tun entsprungenes Unglück übernehmen muss und meint, kraft seines eigenen Willens allein allem Leid ein Ende machen zu können. Natürlich fügen Menschen einander Leid zu, aber nicht alles, was uns zustößt, hat seine Ursache im Tun anderer. Die Entsühnung des schuldigen Subjekts durch göttliche Gewalt ereignet sich, wenn an die Stelle des selbstzentrierten, Leid verursachenden Subjekts die Einsicht in ein Leiden tritt, das keine Anklage und keine Strafe je mindern kann. Diese Entsühnung befreit das Subjekt vom stetig ausweichenden Narzissmus der Schuld und verspricht ihm die Rückkehr ins Leben, und zwar nicht ins bloße Leben und nicht in ein ewiges Jenseits, sondern ins Leben in
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