Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Aggregatzustand von ›Mensch‹ bedeutet« (KG S. 201). Wie aus Benjamins Einverständnis mit der jüdischen Sicht hervorgeht, nach der Töten zur Selbstverteidigung nicht durch das Gebot untersagt ist, basiert das Tötungsverbot nicht auf der »Heiligkeit« des Lebens als solchem (das mit der Schuld korreliert), sondern auf etwas anderem. Benjamin verwirft nicht den Begriff des Heiligen zur Feststellung der Gründe und Ziele des Gebotes gegen das Töten, aber er will eine eindeutige Abgrenzung dessen, was am Leben heilig ist, vom bloßen oder natürlichen Leben.
Die Versuchung liegt nicht fern, Benjamin eine Lehre der außerweltlichen Seele oder des Heiligen zuzuschreiben, wenn er von demjenigen Leben im Menschen spricht, »welches identisch in Erdenleben, Tod und Fortleben liegt« (KG S. 201). Selbst dann bezieht sich Benjamin auf das Heilige nur gleichsam in Parenthese: »So heilig der Mensch ist . . . so wenig sind es seine Zustände«, auch nicht sein leiblicher Zustand und seine Verletzlichkeit. Heilig ist ein ganz bestimmter eingeschränkter Sinn von Leben, der identisch ist in diesem und im Fortleben. Aber wie sollen wir das verstehen? Benjamin führt die Begriffe des Heiligen und der Gerechtigkeit im Kontext einer Spekulation, wonach sie – sofern überhaupt einer Zeit – einer unbestimmten Zukunft angehören. Wie haben wir diese Aussagen zu beurteilen? Ist diese Berufung auf ein anderes Leben, auf einen Lebenssinn jenseits des Körpers das Manöver des »geistigen Terroristen«, der Gewalt mit »Zwecken« rechtfertigt? Das widerspräche wohl Benjamins früherer Behauptung, wonach die göttliche Gewalt keine Zwecke kennt, sondern reines Mittel ist. Damit scheint er sagen zu wollen, dass die göttliche Gewalt einen Prozess vollzieht, aber nicht »verursacht«, dass wir aus den eingesetzten »Mitteln« nicht dieangestrebten »Zwecke« erschließen können und dass Berechnungen dieser Art hier beiseitestehen.
Versuchen wir zunächst, diesen eingeschränkten Sinn von Leben zu verstehen, wie er sich aus Benjamins Mutmaßung ergibt. Wenn an diesem begrenzten Sinn von Leben etwas heilig oder göttlich ist, dann scheint es eben das zu sein, was der Schuld und der Erzwingung von Gesetzestreue durch das positive Recht entgegensteht. Es bestünde in dem, was dieser Form der Rechtsgewalt entgegentritt, und wir haben gesehen, dass diese Art der feindseligen Gegengewalt selbst Ausdruck dessen ist, was in Benjamins Text ungebunden, unverschuldet oder entsühnt ist. In diesem Essay steht jedoch die göttliche Gewalt mit dem Generalstreik und dem Revolutionären in Verbindung, und dies wiederum ist mit der Bekämpfung und Zerstörung des Rechtsrahmens des Staates verknüpft. Ich würde vermuten, dass dieser heilige oder göttliche Sinn von Leben auch mit dem Anarchischen im Verbund steht, mit dem, was jenseits oder außerhalb aller Prinzipien oder Grundsätze liegt. Wir haben schon einen Blick auf dieses anarchistische Moment werfen können, als wir dem einsamen Menschen begegneten, der sich ohne Vorbild und Maßstab mit dem Gebot auseinandersetzt. Diese Auseinandersetzung ist anarchisch, sie greift nicht auf Prinzipien zurück und ereignet sich zwischen dem Gebot und dem, der in Bezug auf das Gebot zu handeln hat. Zwischen beiden gibt es keinerlei Begründungszusammenhang. In diesem einsamen Zurandekommen-mit-dem-Gebot gibt es ein nicht verallgemeinerbares Moment, das die Grundlage des Rechts zerstört, ein Moment, das durch ein anderes Gesetz im Namen des Lebens und in der Hoffnung auf eine Zukunft des Lebendigen ohne Zwang, Schuld und Rechenschaftspflicht angerufen wird, die dafür sorgen, dass der Status quo des Rechts unangetastet bleibt. Die Zerstörung oder Vernichtung der Staatsgewalt gehört weder zur rechtsetzenden noch zur rechtserhaltenden Gewalt. Obgleich diese Beseitigung oder revolutionäre Zerstörung eine neue Epoche einleitet, ergeht von hier aus kein Gesetz und geschieht die Zerstörung nicht im Zuge der Neuaufrichtung positiven Rechts. Die Destruktion weist eine merkwürdige Permanenz auf, was auch einsichtig wird, wenn wir daran denken, dass das anarchische Moment in der Auseinandersetzung mit dem Gebot die Grundlage des positiven Rechts zerstört. Einsichtig wird dies auch, wenn wir an den theologischen Sinn des Messianischen denken – mit dem Benjamin selbst sich in seinem Essay auseinandersetzt –, der nicht nur dem betrachteten begrenzten Sinn von Leben innewohnt, sondern auch
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