Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
rigoroser Generalstreik, insbesondere wenn das Militär nicht eingreift, »die Entfaltung eigentlicher Gewalt in den Revolutionen zu vermindern geeignet ist« (KG S. 195). Wir bezeichnen zwar als Streik eine »Aktion« gegen den Staat, aber der Streik ist, worauf Werner Hamacher hinweist, eine Unterlassung, ein Sich-nicht-Zeigen, eine Gehorsamsverweigerung und die Verweigerung der immer weiteren Fortschreibung staatlichen Rechts. 83 Wenn diese Handlungsverweigerung ihrerseits gewaltsam ist, so richtet sie sich gegen den Imperativ zu handeln selbst; sie entbindet das Recht seiner Macht, indem sie seine Durchsetzung in immer weiteren Wiederholungen seiner Anwendung verweigert, mittels welcher das Recht sich durch die Zeit hindurch erhält. Das Recht kann und wird »untergehen«; es wird seinen »Untergang« haben, was diese Aktion mit der Zerstörung des bislang Bestehenden im Namen einer anderen Zeit, eines »Aufruhrs«, wie Benjamin sagt, verbindet. Kritik ist die Unterbrechung der rechtserhaltenden Gewalt und die Wendung gegen sie, die Verweigerung der Gesetzestreue, eine vorübergehende Kriminalität, die der Erhaltung des Rechts entgegensteht und damit seine Vernichtung fördert. Das abrupte Abbrechen von Benjamins Essay könnte man selbst als Vollzug jener Art plötzlichen Endes verstehen, wie es mit der göttlichen Gewalt einhergeht, dieOperation der Kritik als Modell einer Destruktion und eines Umsturzes in der Wendung gegen die teleologische Zeit.
Stellen wir uns vor – wenn das möglich ist –, Apollo und Artemis fordern ihre Mutter auf, sich zu zügeln, und verweigern ihr den Gehorsam; oder stellen wir uns vor, dass das Militär sich nicht nur weigert, gegen einen Streik vorzugehen, sondern selbst in Streik tritt, die Waffen niederlegt, die Grenzen öffnet, die Übergänge freigibt, alle seine Angehören von der Schuld entbindet, die Gehorsam und Staatsgewalt sichert und sie im Gedächtnis an und in Vorwegnahme von zu viel Trauer und Schmerz im Namen des Lebendigen zum Nichthandeln auffordert.
Stürme
Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, geht es im Messianischen nicht um eine erst noch kommende Zukunft, sondern vielmehr um die »Bruchstücke« und »Funken« einer anderen Zeit in der jetzigen. Das Messianische verspricht für Benjamin keine Zukunft, sondern verwandelt vielmehr die Gegenwart in »Jetztzeit«, wie er sagt. Es bleibt unklar, ob wir die Jetztzeit erreichen können, ob uns die Zeit des Jetzt heraufdämmern kann, befindet sich doch die Gegenwart nur zu oft im Griff der Vergangenheit, unter der Forderung, in immer neuen Zyklen der Vergeltung und Rache für das Geschehene zu bezahlen. Das Jetzt erreichen oder zulassen – das ist nur unter der Bedingung einer gewissen Entsühnung möglich. Kann Benjamin uns beispielsweise helfen, den Krieg im Südlibanon im Sommer 2006 oder den Krieg gegen Gaza 2008/2009 zu verstehen, konkreter: ob und wie der vom Staat Israel in Anspruch genommene Begriff der »Selbstverteidigung« der Vergeltung dient? Die Verteidigung gegen Angriffe scheint vernünftig (was dann auch für die palästinensische Selbstverteidigung gelten müsste) – aber unter welchen Bedingungen löst sich die Selbstverteidigung vom Problem des Selbsterhalts und legitimiert stattdessen ungezügelte Gewalt? Es mag merkwürdig erscheinen, auf den Begriff des Messianischen zurückzugreifen, um sich gegen einen irrigen Begriff der Selbstverteidigung zu verwahren, ist es doch eben das Messianische, worauf sich rechte Siedler berufen. Sollten wir auf der Linken uns dagegen nicht auf vernünftigere säkulare Gründe für den Widerstand gegen staatliche Gewalt berufen? Gegen beide sehr nachvollziehbare Thesen möchte ich die Auffassung vertreten, dass dasMessianische – nicht als Wechsel auf die Zukunft und nicht als Basis für Landansprüche – sehr wohl mit einer Aussetzung der Selbstverteidigung als Dauerlegitimation staatlicher Gewalt einhergehen kann. Wo eine solche Verteidigung permanent wird, lässt sich nicht mehr zwischen legitimem und illegitimem Gebrauch unterscheiden. Anders ausgedrückt: Eben weil die Verteidigung der Legitimierung des Staates dient, ist sie – im Namen des Staates – immer richtig und legitim. Das hat meines Erachtens gefährliche Konsequenzen. Natürlich trete ich nicht für die Selbstzerstörung als Ziel ein, was absurd wäre. Mir geht es jedoch um ein politisches Denken und Handeln, das nicht von Selbstverteidigung und Selbsterhalt als einzigen
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