Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
einer platonistischen Deutung von Benjamins Begriff der Seele widerstreitet.
Der Anarchismus der Destruktion, auf den Benjamin verweist, ist weder als neue Art Politik noch als Alternative zum positiven Recht zu verstehen. Er kehrt vielmehr als Bedingung und notwendige Grenze des positiven Rechts immer wieder. Er deutet nicht auf eine noch kommende Epoche, sondern liegt aller Rechtsgewalt zugrunde und bildet das Destruktionspotenzial eines jeden Aktes, durch den das Subjekt an das Recht gebunden wird. Gewalt außerhalb des positiven Rechts ist für Benjamin zugleich revolutionäre und göttliche Gewalt – rein, unmittelbar, ungetrübt. Hier bedient sich Benjamin sprachlich der Beschreibung des Generalstreiks, des Streiks, der ein ganzes Rechtssystem in die Knie zwingt. Ein spekulatives Moment liegt in Benjamins Behauptung, die entsühnende Gewalt sei dem Menschen verborgen und mit ewigen Formen verbunden: dem Leben im Menschen, das gleich ist im irdischen Leben, im Tod und im Fortleben. Zieht man zur »Kritik der Gewalt« das etwa gleichzeitig entstandene »Theologisch-politische Fragment« hinzu, 78 werden ausgesprochen interessante Behauptungen erkennbar: erstens, dass nichts Geschichtliches sich mit dem Messianischen in Bezug setzen kann; zweitens, dass die entsühnende Gewalt in einem »wahren Krieg« ebenso wie »im Gottesgericht der Menge am Verbrecher« erscheinen kann (KG S. 203).
Nach wie vor scheint hier Anlass zur Besorgnis zu bestehen. Rechtfertigt Benjamin den wahren Krieg außerhalb der Legalität oder den Angriff der Menge auf den von ihr selbst zum Verbrecher Erklärten? Sein abschließender Verweis auf die »heilige Vollstreckung« scheint auch gesetzlose Massen heraufzubeschwören, die Gewalttaten im Namen einer heiligen Macht begehen. Ist das der Benjamin, der auf der »antiparlamentarischen Welle« reitet und in gefährliche Nähe zum Faschismus gerät? Oder richtet sich die »heilige Vollstreckung« lediglich gegen die totalisierenden Ansprüche des positiven Rechts? Benjamin hat bereits erklärt, dass die göttliche oder heilige Gewalt nicht durch Zwecke zu rechtfertigen ist, scheint aber der Auffassung, dass es bei der göttlichen Gewalt durchaus um eine spezifische Beziehung zwischen dem Handelnden und dem Göttlichen geht. 79
Wie sind diese Ausführungen letztlich zu verstehen? Benjamin ruft nicht zur Gewalt auf, sondern ist vielmehr der Auffassung, dass die Zerstörung bereits als Voraussetzung des positiven Rechts, ja des Lebens selbst am Werk ist. Das Heilige bezeichnet nicht das Ewige, es sei denn, wir begreifen die Zerstörung selbst als Art von Ewigkeit. Überdies impliziert Benjamins Begriff des Heiligen, dass die Destruktion kein Ende haben kann und weder durch Rechtsetzung noch durch eine teleologische Geschichte zum Abschluss gebracht wird. In diesem Sinn ist Zerstörung zugleich das anarchische Moment der Aneignung des Gebotes und der Schlag gegen das positive Rechtssystem mit seiner Verstrickung des Subjekts in leblose Schuld. Und die Zerstörung ist in einem recht präzisen Sinn auch messianisch.
Fragen wir also nach dem präzisen Sinn der Zerstörung in Benjamins messianischer Konzeption und betrachten wir zunächst die Behauptung aus dem »Fragment«: »Denn im Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang …« 80 Dieser Untergang ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein andauerndes Geschehen, das zum Leben selbst gehört, und eben in ihm könnte das Heilige am Leben liegen, das Benjamin als »die Seele des Lebendigen« bezeichnet. Der innere Mensch in seiner ethischen Einsamkeit ist im »Fragment« Schauplatz messianischer Intensität. Verständlich wird das, wenn wir an die einsame Auseinandersetzung mit dem Gebot denken, in dem für Benjamin Verantwortung besteht – eine Verantwortung, der wir dann bei Lévinas wieder begegnen und die in radikalem Gegensatz zum erzwungenen Gehorsam steht. Die messianische Intensität des inneren Menschen entspringt seinem Leiden als Unglück oder Schicksal. Am Schicksal leiden heißt eben, nicht selbst Ursache des eigenen Leids zu sein, bedeutet Leiden jenseits des Schuldzusammenhangs infolge von Zufällen oder Mächten außerhalb der eigenen Kontrolle. Siegt das Schicksal in der Errichtung positiven Rechts, ergibt sich daraus indes ein wesentlicher Bedeutungswandel. Das vom Schicksal hervorgebrachte Recht lässt das Subjekt glauben, es selbst sei an seinem Leid im Leben schuld, sein Leid sei kausale Folge seines eigenen Tuns.
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