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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Butler
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Alternativen ausgeht. Innerhalb einer solchen geschlossenen Dialektik lässt sich letzten Endes nicht denken – schon gar keine vertretbare Politik.
    Kann man mithilfe von Benjamins Frühwerk über Vergebung und Entsühnung nachdenken und von hier aus das Problem der Vergeltung und dessen Fallstricke vor dem Hintergrund der jüngsten militärischen Übergriffe betrachten? Ich möchte hierzu das Bild vom »Sturm« in Benjamins Frühwerk heranziehen. Wir kennen dieses Bild vom »Engel der Geschichte« in Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, wo es heißt, »ein Sturm weht vom Paradiese her«, ein Sturm, der sich in den Flügeln dieses Engels »verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann«. 84 Was bedeutet diese merkwürdige Verknüpfung von Gewalt und Paradies? Der Engel ist nicht der Zukunft zugewandt und kann sich nicht der Zukunft zuwenden; er kann nur zurückblicken, und anstelle der Vorwärtsentwicklung unserer gewöhnlichen Auffassung vom geschichtlichen Fortschritt sieht er nur einen »Trümmerhaufen«, der »vor ihm zum Himmel wächst«. Dass es dieser Sturm ist, den wir »den Fortschritt nennen«, das ist gewiss ebenso überraschend, da der Blick zurückgeht und auf einen wachsenden Trümmerhaufen fällt. Entwaffnend ist zudem, dass wir uns diesen Sturm vom »Paradies« her denken sollen – denn welches Paradies soll in diesen aufgehäuften Trümmern liegen, in einer Vergangenheit, die anwächst, während wir in der Zeit voranschreiten, das heißt rückwärts schreiten? An anderer Stelle äußert sich Benjamin zum Fortschrittsbegriff als Begriff einer unilinearen Zeit, die Homogenität und Kontinuität zur Substanz der Geschichte macht; dagegen gehört der »Fortschritt« dieses unaufhaltsam getriebenen Engels mit offenem Mund und aufgerissenen Augen ganz gewiss nicht zur Verblendung einer linearen geschichtlichen Entwicklung und ihres Willenssubjekts. Wichtig scheint auch, dass es gerade die Bilder des Sturms und der im Sturm verfangenen Flügel des Engels sind, die gegen jenen begrifflichen Marsch aufgeboten werden, in welchem der Fortschritt sowohl im Kapitalismus wie in bestimmten Spielarten des Historischen Materialismus liegen soll.
    Weshalb weht der Sturm also vom Paradies her? Sendet das Paradies eine Botschaft? Und wenn, ist es eine Botschaft, wie wir sie bei Kafka finden, die kaiserliche Botschaft, die nie ankommt, weil der Bote eine unendlich verdichtete und ausgedehnte Architektur durchqueren muss? Wenn etwas zerstört wird – ist das vielleicht selbst die Bewegung voran? Und wie sollen wir das als Bild einer Art von Messianismus würdigen, geschweige denn verstehen? Wenn Benjamin mit diesem Bild des Sturms einen bestimmten Begriff des Messianischen einführt, werden wir das Messianische ganz zurecht nicht mit dem Fortschritt gleichsetzen, und welche Zerstörung auch immer es mit sich bringt, wird etwas zerstören, das selbst zerstörerisch ist. In seinen Thesen formuliert Benjamin im Zuge der Opposition gegen den Faschismus als »unsere Aufgabe« die Herbeiführung des »wirklichen Ausnahmezustands«, und als einen Grund für den Erfolg des Faschismus nennt er, »dass die Gegner ihm im Namen des Fortschritts als einer historischen Norm begegnen« (BG S.   697). Wenn der Fortschritt eine solche Norm ist, folgt daraus, dass eine bestimmte Geschichte mit Notwendigkeit eine Zukunft hervorbringt, durch die sie überwunden wird. Dieser Glaube liegt nun in Trümmern, und es sind diese Trümmer, die der Engel sieht. Keine historische Entwicklung wird den Faschismus überwinden, nur ein Ausnahmezustand, der mit einem bestimmten Vertrauen in die historische Fortentwicklung bricht. Ist dieser Ausnahmezustand – mit offenem Mund, mit aufgerissenen Augen, unaufhaltsam – als das Messianische zu verstehen, nicht als das »Kommende«, sondern vielmehr als der messianische Zug des Jetzt, den Benjamin »Jetztzeit« nennt? Die Kritik des Fortschritts, wie Benjamin sie fasst, »begründet so einen Begriff der Gegenwart als der ›Jetztzeit‹, in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind« (BG S.   704).
    Benjamin ist auf das Problem des Messianischen immer wieder zurückgekommen; in seinem Frühwerk bringt er es mit Vergebung und Vergessen in Verbindung, während er in den »Thesen« davon spricht, wie wichtig es ist, eine vergessene Geschichte dem Vergessen zu entreißen. In engem Austausch mit Scholem bemühte sich Benjamin in den frühen Jahren

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