Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Verpflichtung, zwischen echter und legitimer Selbstverteidigung und deren zynischem Missbrauch im Dienst einer unendlich selbstlegitimatorischen Aggression zu unterscheiden. Wenn Tötungen im Vorhinein und im Nachhinein als Selbstverteidigung ausgegeben werden, ist Selbstverteidigung keine glaubwürdige Rechtfertigung für das Töten mehr. Alles Töten wird dann von dem, der die Gewalt als Selbstverteidigung bezeichnet, unterschiedslos gerechtfertigt und gebilligt.
Was ist aber dieses »Selbst«, das verteidigt werden soll, und welche Art Selbst bleibt tatsächlich nach dem Töten? Könnte es sein, dass Selbstverteidigung nicht zu Selbsterhalt führt, sondern zu Selbstzerstörung? Und um dieses »Selbst« zu verstehen – müssen wir nicht auch fragen, wie es sich definiert, durch welche verfügbaren Grenzziehungen? Die Grenze ist immer ein Weg zur Wahrung einer Beziehung zu dem, was durch die Grenze ausgeschlossen ist. Diejenigen auf der anderen Seite der Mauer oder diejenigen ohne volles Bürgerrecht diesseits der Mauer definieren somit das »Selbst«, das sich selbst zu erhalten sucht. Bedauerlicherweise erhält es sich durch Erhaltung der Grenze, die schließlich doch einen Bezug zu den Ausgeschlossenen und Unterdrückten bildet, und diese Grenze muss Tag für Tag neu gezogen und mit militärischen Mitteln aufrecht erhalten werden. »Verteidigt« wird also eine Form der verleugneten Unterdrückung, ohne die das Selbst nicht überleben kann. Aber eben diese Unterdrückung führt zu Widerstand gegen den Status quo und sucht damit das Selbst mit dem Gespenst der Zerstörung heim. Da es kein Selbst ohne Grenzen gibt und diese Grenzen immer Schauplatz vielfältiger Beziehungen sind, gibt es kein Selbst ohne seine Beziehungen. Sucht das Selbst sich gegen diese Einsicht zu verteidigen, verleugnet es, dass es per definitionem mit anderen verbunden ist. Und durch diese Verleugnung gefährdet es sich; es lebt dann in einer Welt, die nur zwei Optionen kennt: vernichtet werden oder vernichten.
Kapitel 6
Das Dilemma des Pluralen – Kohabitation und Souveränität bei Arendt
Ich möchte die Entstehung dieses Begriffs der Kohabitation oder des Zusammenlebens in Arendts Eichmann-Buch verfolgen (ohne zu behaupten, dass er hier zum ersten Mal erscheint); in Eichmann in Jerusalem wirft sie dem Angeklagten vor, er und seine Vorgesetzten seien der Auffassung gewesen, sie könnten wählen, mit wem zusammen sie die Erde bewohnen wollen. Diese Stelle ist kontrovers, da sie den Vorwurf zugleich im eigenen Namen und nicht im eigenen Namen erhebt; unstrittig ist indes ihre eigene Überzeugung, wonach niemand in der Lage sein darf, eine solche Wahl zu treffen und wonach uns unser Zusammenleben auf der Erde vor jeder Entscheidung, ja vor jedem Gesellschaftsvertrag und vor jeder politischen Vereinbarung gegeben ist. Ich hoffe, im vorangegangenen Kapitel klargemacht zu haben, dass die Entscheidung, mit wem gemeinsam die Erde zu bewohnen ist, für Eichmann die Entscheidung zur Vernichtung bestimmter Bevölkerungsgruppen und die Ausübung einer Freiheit zum – wie er selbst sagt – Völkermord war. Wenn Arendt recht hat, können wir nicht nur nicht wählen, mit wem wir die Erde bewohnen, sondern müssen auch aktiv das nicht gewählte umfassende und mannigfaltige Zusammenleben bewahren: Wir leben nicht nur mit denen, die wir uns nicht ausgesucht haben und zu denen wir uns vielleicht gar nicht zugehörig fühlen, sondern wir sind auch verpflichtet, deren Leben und die Pluralität, zu der es gehört, zu schützen. So erwachsen aus der nicht gewählten Kohabitation ganz konkrete politische Normen und ethische Vorschriften.
Ich werde später auf dieses wichtige Konzept zurückkommen; schon jetzt wird aber deutlich, dass sich Arendt entgegen der Idee der Juden als »auserwähltem« Volk, das dem Rest der Welt aufgeklärte Werte bringen soll, auf die Seite der nicht Auserwählten schlägt und eben dieses Nichtauserwähltsein für die Grundlage unseres Zusammenlebens auf der Erde hält. Ihr Begriff der Kohabitation ergibt sich in mancher Hinsicht aus Überlegungen zum Exil, insbesondere zur Exilbedingung des Jüdischseins. Ihr eigener Flüchtlingsstatus wurde merkwürdigerweise gegen sie gewendet, als Zionisten gegen ihre Berichte aus Jerusalem opponierten, in denen sie die nationenbildende Taktik des Prozesses offenlegte. Ihr wurde vorgehalten, die Bedeutung des Eichmann-Prozesses nicht zu erkennen, da sie selbst eine deutsche Jüdin war, die
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