Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
dieser Vorstellung des Göttlichen eine Vorstellung des jüdischen Gottes als eines rachsüchtigen Gottes erwarten, müssen wir damit rechnen, dass hier ein ganz anderes Judentum am Werk ist. Der Sturm mit Hand und Gesicht steht letztlich für die Zeit selbst, eine Zeit, die aus dem Kreislauf der Vergeltung befreit ist und die Schuld und ihre Spuren löscht (eine Zeit mithin, die ein anderes Verständnis des Messianischen eröffnet); er steht für eine Zeit, deren Stimme den menschlichen Schreckensschrei übertönt. Wenn das ein Gott ist, dessen Zorn als Sturm der Vergebung durch die Geschichte braust, dann ist es nicht der rachsüchtige Gott, sondern einer, der die Rache selbst vernichten will. Und wenn er Gott ist, so Gott im Krieg gegen einen anderen Gott, der sich dem Blitzschlag des göttlichen Grimms widersetzt, ein früherer, der die Zeichen der Missetaten löscht und damit die Rache vereitelt.
Diese Gestalt des Göttlichen entspricht der Zeit, einer Zeit, deren Macht von menschlicher Erinnerung und menschlichem Vergessen nicht berührt wird. Sie bringt Vergebung nur, weil sie nicht der menschlichen Zeiterfahrung unterliegt, weil sie dem Menschen gegenüber indifferent ist, auch wenn sie jedes menschliche Leben durchzieht. Diese Zeit ist weder der Erinnerung noch dem Vergessen zugänglich. Nur diese Art von Zeit entsühnt; sie besitzt die Macht zur Tilgung der Spuren aller Missetaten und hilft so, denProzess der Vergebung zu vollenden. Das Vergangene ist vergeben, weil es ausgelöscht ist, nicht aber, weil Menschen mit ihm abgeschlossen, das heißt irgendeine gesellschaftliche Lösung gefunden haben. Das Unlösbare bleibt ungelöst, aber es spielt keine Rolle mehr. Die Zeit hilft nach Benjamin in vollständig geheimnisvoller Weise zur Vergebung, wenn auch nie zur Versöhnung. 87
Wenn man im Sommer 2006 die israelische Tageszeitung Haaretz gelesen hat, konnte man feststellen, dass es in den Debatten um den Krieg vor allem um die Fragen ging, weshalb Israel diesen Krieg nicht effektiver führt, ob der Krieg gewonnen wird, ob Israel seine militärische Schlagkraft verloren hat und wessen Schuld das sein könnte. Es wurde sehr wenig darüber gesprochen, ob der Krieg gerechtfertigt war oder wie man den Verlust von Leben und Lebensgrundlagen im Südlibanon verwinden würde. Manche Autoren behaupteten zynisch, die Hisbollah habe Dörfer und zivile Standorte infiltriert und die Menschen im Südlibanon als Schutzschilde missbraucht. Dieselbe Argumentation tauchte bei der Operation »Cast Lead« in Gaza auf, als behauptet wurde, die Palästinenser missbrauchten Kinder auf öffentlichen Plätzen als menschliche Schutzschilde. Lässt sich nicht sagen, diese Vorposten an der Nordgrenze des Landes, das Israel genannt wird, seien ebenso voller menschlicher Schutzschilde? Und die Soldaten, die sich bereit erklären, in diesen Gebieten Dienst zu tun, sind auch sie menschliche Schutzschilde in diesem Sinn? Wenn wir alles im Krieg zerstörte Leben als menschliches Schutzschild begreifen, dann, scheint mir, rechtfertigen wir schon den Mord, denn alle, die dort in Reichweite der Bomben sind, befinden sich dort in voller Absicht, zu Zwecken der Taktik und vorsätzlich, und sie sind nicht nur Teil des Krieges, sondern gelten auch als Schutzschilde, als Instrumente des Krieges. Es kann hier keinen Zorn über die Zerstörung von Menschenleben geben – und es gibt keinen, würde ich sagen, weder auf der einen noch auf der anderen Seite der Grenze –, weil alles menschliche Leben als Teil des Krieges instrumentalisiert wurde und deshalb seine Schutzwürdigkeit eingebüßt hat, nicht mehr als gefährdetes, Not leidendes, wertvolles und der Trauer wertes Leben gilt. Es ist frappierend, wie das Leben der israelischen Soldaten personifiziert, mit Namen und Familien verbunden und offen betrauert wurde, während das Leben der libanesischen und palästinensischen Soldaten und Zivilisten namenlos und faktisch unbetrauerbar blieb.
Handeln oder leben »im Namen der Lebendigen« – das wirft die Frage auf, wer am Ende als lebendig gilt. Man sagt nicht »Leben für die Juden, aber nicht für andere«, und gewiss sagt man nicht »Leben für die Israelis,aber nicht für andere«. Das Leben beinhaltet Vergänglichkeit, und eben weil es so leicht zerstört werden kann, ist es so wertvoll. Dass Leben ausgelöscht werden kann, nimmt ihm nicht seinen Wert, sondern erhöht ihn. Das Gebot »Du sollst nicht töten« beinhaltet eine starke
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