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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Butler
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schließlich (5) die geschichtliche Lage des Flüchtlings, die Arendt mit zahllosen anderen deutschen Juden teilte, eröffnete ihr eine kritische Sicht auf den Nationalstaat. Der strukturelle Bezug zwischen dem Nationalstaat und der Erzeugung von Staatenlosigkeit ließ sie jede Staatsbildung ablehnen, die mit der Minderung oder Verweigerung der Heterogenität der Bevölkerung verbunden ist, eingeschlossen die Gründung Israels auf der Grundlage jüdischer Souveränität.
    Im Folgenden will ich genauer auf Arendts Überlegungen zum Eichmann-Prozess eingehen, mit denen sich schon zahlreiche Forscher aus verschiedenen Perspektiven beschäftigt haben. 142 Ich möchte zeigen, wie der Prozess des Denkens selbst uns für Arendt von Anfang an zu einem bestimmten Verständnis des Zusammenlebens führt. Eichmanns Unfähigkeit zu denken und seine Unfähigkeit zum unabhängigen Urteilen sind für sie entscheidend dafür, dass er eine völkermörderische Politik entwerfen und umsetzen konnte. Diese Verbindungen sind zunächst alles andere als offensichtlich, und Arendt selbst macht die Sache nicht besser, wenn sie immer wieder einmal den Zusammenhang von Denken und Handeln überzeichnet. Hier verläuft jedenfalls eine ihrer Argumentationslinien. Dieser Verknüpfung von Denken und Kohabitation will ich nachgehen, um die Spannungen in Arendts Auffassungen zu Pluralität und Souveränität besser zu verstehen, aber auch, um die philosophische und politische Bedeutung der Pluralität für sie zu verdeutlichen. Arendt wendet sich zwar gegen Souveränitätskonzepte von Nation und Staat, scheint jedoch der Souveränität einen Platz in ihren Überlegungen zur Pluralität des Urteilens vorzubehalten. Damit stellt sich die Frage, wie eine genauere und konsistentere Darlegung der Pluralität aussehen könnte, insbesondere wenn man bestreitet, dass das Urteilen eine radikal voraussetzungslose und souveräne Ausübung von Freiheit ist. Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, besitzt aber meines Erachtens direkte politische Implikationen für ein neues Verständnis des Lebens des Körpers, das sich nicht vom Leben des Geistes abgrenzt.

Kontra Eichmann: Arendts Stimme und die Herausforderungen der Pluralität
    Denken ist ein schwieriges Thema in Arendts Werk, ist es doch selbst eine Instanz des Denkens, ja Beispiel für eine gewisse Spaltung des Selbst, ohne die Denken nicht möglich ist. Nichtdenken ist indes eben das Verbrechen Eichmanns. Wir mögen das zunächst für eine skandalöse Beschreibung seines Verbrechens halten; ich hoffe aber zeigen zu können, dass die Konsequenz des Nichtdenkens für Arendt der Völkermord ist oder zumindest sein kann. Die erste Reaktion auf eine solche scheinbar naive Behauptung könnte der Vorwurf sein, Arendt überschätze die Macht des Denkens oder halte an einer höchst normativen Auffassung des Denkens fest, in der die verschiedenen Modi von Reflexion, Selbstgespräch und stummem Hin- und Herwenden unberücksichtigt bleiben, die alle zum Denken gehören. Ich hoffe, dieses Problem klären zu können, insbesondere in Hinblick auf Arendts Konzeption von Selbst und Sozialität. Im Moment möchte ich abernur darauf hinweisen, wie zentral Eichmann in Jerusalem , ursprünglich eine Serie von Artikeln für den New Yorker 1963, 143 für viele ihrer wichtigsten philosophischen Anliegen in den nachfolgenden Jahren war: Was ist Denken, was ist Urteilen, ja was heißt Handeln? Und noch wichtiger vielleicht: Wer bin ich und wer sind wir?
    Wie schon gesagt, war Arendt mit dem abschließenden Todesurteil für Eichmann einverstanden, nicht jedoch mit der Begründung und auch nicht mit dem Erscheinungsbild des Verfahrens selbst. Ihrer Ansicht nach hätte sich der Prozess auf Eichmanns Taten einschließlich seines genozidalen Verhaltens konzentrieren müssen. Wie Yosal Rogat vor ihr war sie der Meinung, man könne nicht die Geschichte des Antisemitismus oder auch des spezifischen Antisemitismus in Deutschland vor Gericht bringen. 144 Sie wandte sich gegen die Behandlung Eichmanns als Sündenbock; sie kritisierte die Art und Weise, in der Israel den Prozess zur Legitimation seiner eigenen Rechtshoheit und nationalen Bestrebungen nutzte. Ihrer Ansicht nach blieben der Mensch und seine Taten in dem Prozess unbegriffen. Eichmann stand entweder für das Nazitum insgesamt oder für jeden einzelnen Nazi oder wurde als durch und durch pathologisches Individuum betrachtet. Den Anklägern schien es gleich zu sein, dass diese

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