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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Butler
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Europa in Richtung New York verlassen und damit die Zugehörigkeit zum jüdischen Staat geopfert hatte, die ihr die Position der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft gesichert hätte. Als jemand in der Galut , der für sich selbst das Ideal der Heimat verworfen hat, besaß sie demnach nicht das »Recht«, über das zu urteilen, was sich in israelischen Gerichten abspielte. Was aber, wenn ihr eigenes Leben in der Diaspora grundlegend für die Entwicklung ihrer politischen Haltung war und wenn es ihr tatsächlich darum ging, aus der Diaspora selbst Normen als Basis für einen binationalen Staat in Israel zu gewinnen? 141 Dieser Ansatz verschleift die konventionellen Begriffe der »Heimat« und der »Diaspora«, aber eben darum ging es ihr meiner Ansicht nach: Es kann keine Heimat ausschließlich für die Juden auf von Palästinensern bewohntem Land geben; das stellt auch eine Ungerechtigkeit dar, insbesondere, wenn man an die Vertreibung Hunderttausender Palästinenser aus ihrer Heimat im Jahr 1948 denkt.
    Arendts Beharren auf diesem Punkt entspricht ganz ihrem kontinuierlichen politischen Interesse am Problem der Staatenlosigkeit, das zu den wichtigsten Grundlagen ihrer Kritik des Nationalstaates gehörte. Sie dachte nicht nur daran, dass die europäischen Juden, soweit sie den Zweiten Weltkrieg überlebten, unter den Nazis und nach dem Krieg zu Staatenlosen geworden waren, sondern wusste auch, dass dieses Problem schon früher im 20. Jahrhundert entstanden war und dass die Vertreibung in die Staatenlosigkeit ein regelrechtes Ritual des Nationalstaats war. Ich hoffe, gezeigt zu haben, dass die Ansprüche der Staatenlosen für Arendt Vorrang hatten; sie verdeutlichten für sie die Unhaltbarkeit des Nationalstaates und sollten dem politischen Modell des Föderalismus und vergleichbarer Modelle zur Umsetzung verhelfen, die der unausweichlichen Pluralität oder Mannigfaltigkeit der Bevölkerung gerecht werden. Auch hier bilden Pluralität und Kohabitation die dominante Norm, nach welcher der Staat das Problem der Staatenlosigkeit lösen und die Heterogenität seiner Bürger akzeptieren sollte. Gewöhnlich wird davon ausgegangen, dass der politische Zionismus nach der Nazi-Herrschaft und ihren Gräueln die einzige Möglichkeit für die Juden war, den Schutz zu erwirken, den sie brauchten und verdienten; Arendt hingegen war der Auffassung, dass das eindeutige Mandat aus der staatlichen Gewalt und dem Völkermord des Nationalsozialismus darin lag, dass überhaupt keinStaat auf der Basis einer einzigen Nationalität oder Religion gebildet werden sollte und dass die Rechte der Staatenlosen ein für alle Mal Vorrang haben müssen. Der alternative Leitsatz lautet dementsprechend: Staatenlosigkeit – Nie wieder!
    Bislang habe ich verdeutlicht, inwieweit Arendts eigenes Involviertsein in historische und theologische Bedingungen des Judentums von zentraler Bedeutung für ihre Verteidigung des Binationalismus und für ihre Kritik des politischen Zionismus war. Geklärt zu haben hoffe ich folgende Punkte: (1) eine Konzeption des Zusammenlebens, zu deren Bedingungen das Exil gehört; (2) eine Affinität zu Benjamins Begriff des Messianischen als deutliche Alternative zur Vorstellung des geschichtlichen Fortschritts (die Position, die Scholem schließlich einnahm), indem das »wandernde« und »verstreute« jüdische Leben Vorrang erhält (das war auch Rosenzweigs Haltung) und die Erinnerung in den Mittelpunkt des Interesses rückt; (3) das jüdische Leben in seiner Diaspora als befasst mit der ethischen Beziehung zum Nicht-Juden und der Kohabitation nicht als geschichtliche Notlösung, sondern als grundlegende Aufgabe der jüdischen Ethik; (4) den Bezug zwischen jüdischer Ethik und kantischer Ethik, den Arendt aus dem Werk Hermann Cohens und der Marburger Schule des Neukantianismus übernimmt. Es war dabei nicht nur die besondere Beziehung von Judentum und deutschem politischen Denken, die Arendt im Anschluss an Cohen auf ihre Art weiterentwickelte; sie schloss auch an Kants Begriff der reflektierenden Urteilskraft an, die sich zu ihrer Legitimation auf keine äußere Autorität stützt und zukunftsorientiert ist. Der Gedanke der Berücksichtigung des Standpunktes anderer (wozu Eichmann nicht in der Lage war) war nicht nur schon in manchen Versionen des kategorischen Imperativs enthalten, sondern auch in der ethischen Forderung des Bezugs zur Alterität, der auch zum Kern eines gewissen jüdischen Kosmopolitismus gehört. Und

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