Am Sonntag stirbt Alison
konnte. Und zum Glück auch den verkrampften Versuchen ihrer Mitschüler, so zu tun, als sei nichts geschehen. Ein paar Tage, in denen sie sich in diesem Zimmer vergraben konnte, niemanden sehen musste. Nicht mal ihren Vater, der auf einem geschäftlichen Termin in Wien sein würde, oder war es Zürich? Es war ihr egal, so wie ihr das meiste mittlerweile egal war.
Draußen fuhr ein Auto an. Das erste Auto des Tages. Lys stand auf und ging zum Fenster. Sie sah die Scheinwerfer einen hellen Kegel in die Nacht schneiden. Eine Frau hastete in ihrem Schein in Richtung Bushaltestelle. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite zogen ein paar junge Leute nach einer durchfeierten Nacht heimwärts. Hallo, dachte Lys, ich heiße Lysande Thieler. Ich bin sechzehn Jahre alt und bis vor Kurzem war ich eine von euch. Bis vor Kurzem war noch alles normal. Ich bin auf Partys und Konzerte gegangen, ich habe Musik gehört und Freunde getroffen und Fußball gespielt, und das sogar ziemlich gut.
Jetzt ist das alles vorbei.
Sie ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen. Über den Bildschirm schwebte ein nichtssagender Sternenhimmel als Bildschirmschoner. Sibel würde ausrasten, wenn sie wüsste, dass Lys den Computer Tag und Nacht laufen ließ. Ihr Vater sagte nichts, auch wenn er es mit Sicherheit bemerkt hatte. Wahrscheinlich glaubte er, sie würde den Computer als eine Art Nachtlicht benutzen, weil sie Angst im Dunkeln hatte. Natürlich war das nicht der Grund, sondern etwas anderes, etwas, das sie nicht erklären konnte. Weder ihrem Vater noch dieser Psychologin. Nicht mal sich selbst.
Sie hätte es verhindern können. Sie hätte an diesem Nachmittag vor vier Monaten nur kurz den Rechner anschalten und einen Blick in eines der Foren werfen müssen, in denen sich die Leute vom Sportverein rumtrieben. Dann hätte sie die Nachricht dort entdeckt. Vielleicht zumindest.
Die Nachricht. Heute werden sie alles bereuen. Bennie.
Lys blinzelte. Sie hatte die Nachricht nicht gesehen, sie hatte nichts verhindert, und jetzt war es zu spät. Und deshalb gab es keinen logischen Grund, keine Möglichkeit zu erklären, warum sie jeden Tag rund um die Uhr den Rechner laufen ließ und in jeder freien Minute soziale Netzwerke und Internetforen durchsuchte, als ob sie dort etwas finden könnte, das alles ungeschehen machte. Es war eine krankhafte Schuldreaktion, wie die Psychologin es nannte, oder, in Sibels Worten, völlig gestört. Wahrscheinlich war es wirklich an der Zeit, das zu tun, was die Psychologin ihr geraten hatte. Den Computer aus- und so schnell nicht wieder anzuschalten. Zu akzeptieren, dass man die Zeit nicht zurückdrehen konnte.
Draußen fuhr ein weiteres Auto vorbei. Lys warf einen Blick zurück auf ihr Bett, das sich nur schwach in der Dunkelheit abzeichnete. Dann drückte sie eine Taste und der Sternenhimmel verschwand.
Nur ein kurzer Blick in den Facebook-Auftritt des Sportvereins und vielleicht noch in ein oder zwei Schülerforen, nur um sicher zu sein, dass alles in Ordnung war. Das war doch kein Fehler. Wenn sie wusste, dass alles gut war, würde sie vielleicht noch ein oder zwei Stunden schlafen können, also, was sprach dagegen?
Ihre Finger flogen über die Tastatur. Eine Website baute sich auf: in der linken oberen Ecke das Logo des Sportvereins, darunter eine Gruppe grinsender Jungs in Trikots. Dann kamen die Einträge der letzten Stunden.
21.2., 19.31 h, Nico S.: Wahnsinnsspiel gegen den SC Neuhausen!
21.2., 19.45 h, Tim P.: Marco ist der Größte, irres Tor!!!
21.2., 20.13 h…
Lys hielt inne. Sie starrte auf den Bildschirm, der ihr Gesicht blass erleuchtete. In ihren geweiteten Pupillen spiegelten sich Bilder und Textzeilen. Doch ihr Blick klebte nur an einem einzigen Satz.
Nein. Das konnte nicht sein. Das durfte einfach nicht sein.
Der Raum begann sich zu drehen und der Bildschirm verschwamm vor Lys’ Augen, mit ihm die vier kurzen Worte, die ein Teilnehmer mit dem sonderbaren Namen »Chalchiu Totolin« in das Forum gestellt hatte:
Am Sonntag stirbt Alison.
***
Dass sie aufgesprungen und aus dem Raum gelaufen war, merkte Lys erst, als sie in der Küche stand. Zitternd tastete sie nach dem Lichtschalter und kurz drauf flackerte die Lampe über dem Küchentisch auf.
Jetzt keine Panik, Lys, sagte sie sich. Keine Panik. Was hat die Psycho-Tante zu Panikattacken gesagt? Bis zehn zählen und dabei tief atmen oder so ähnlich. Lys stützte sich mit beiden Händen auf dem Küchentisch ab, während sie tief und
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