Am Sonntag stirbt Alison
langsam Luft in sich einsog.
Keine Panik. Das ist sicher nur irgendein blöder Witz, den sich so ein paar Idioten nach einem Kasten Bier ausgedacht haben. Und jetzt lachen sie sich kaputt bei der Vorstellung, dass sie damit ein paar Leute, die immer gleich durchdrehen, zu Tode erschreckt haben. Leute wie mich eben.
Am Sonntag stirbt Alison.
Atmen. Sicher gibt es eine völlig harmlose Erklärung für diesen Satz. Alison ist eine Figur in irgendeiner amerikanischen Soap und jetzt haben die Fans spekuliert, dass Alison in der nächsten Folge geliefert ist. Oder Alison ist eine Katze, die am nächsten Sonntag eingeschläfert werden soll. Quatsch. So etwas postet doch niemand auf der Website des Sportvereins?
Sie hörte ein Geräusch und zuckte zusammen. Hastig wandte sie sich zur Tür. Lys’ Vater, unrasiert und in einem gestreiften Schlafanzug, blinzelte ihr entgegen. »Lys?«, fragte er vorsichtig. »Ist alles in Ordnung?«
»Klar.« Lys setzte ein Grinsen auf. Ihr Herz klopfte so laut, dass es ihre Stimme zu übertönen schien.
Ihr Vater betrachtete sie mit diesem sonderbaren, prüfenden Blick, den er sich in letzter Zeit angewöhnt hatte. »Bist du sicher?«, fragte er. »Du bist ganz blass.«
»Mir geht’s gut.« Sie hasste es, ihren Vater anzulügen. Aber was hätte sie ihm sonst sagen können, was nicht völlig irre geklungen hätte? »Ich… habe nur Durst.« Zum Beweis ihrer Behauptung riss sie den Kühlschrank auf und schwenkte eine Flasche Mineralwasser durch die Luft.
Der Blick ihres Vaters blieb unruhig. Verdammt, hör auf, mich so anzugucken. Ich bin nicht krank und ich werde auch nicht sterben.
»Lys, du würdest es mir doch sagen, wenn etwas nicht in Ordnung wäre, oder?«
»Ja. Klar.« Damit du mich noch zu fünf weiteren Psychologen schleifst? Vergiss es! Lys schob sich an ihm vorbei zur Tür hinaus. Sie wusste, dass er ihr hinterherstarrte, zumal sie die Wasserflasche ungeöffnet auf dem Tisch stehen gelassen hatte. Egal. Sie flüchtete in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Der Bildschirmschoner war wieder angesprungen. Erschöpft ließ sich Lys auf den Schreibtischstuhl fallen. Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie vielleicht alles nur geträumt hatte. Schlafmangel kann Halluzinationen auslösen, das wusste man schließlich. Und sie konnte sich an keine Nacht in den letzten Wochen erinnern, in der sie durchgeschlafen hätte. Außerdem war dieser Satz ja auch ziemlich verrückt gewesen. Am Sonntag stirbt Alison. Und dann noch dieser bescheuerte Name, Chalchi-was?
Sie drückte eine Taste. Und da war es wieder, unverändert. Chalchiu Totolin. Am Sonntag stirbt Alison.
Es ist nur ein Witz, Lys. Es muss ein Witz sein. Du darfst dich nicht in jede Kleinigkeit reinsteigern, die ein bisschen an die Sache mit Bennie erinnert, sonst stecken sie dich demnächst in die Psychiatrie!
Sie holte tief Luft, bis ihr Puls sich wieder beruhigt hatte. Dann klickte sie den Browser weg und warf sich aufs Bett.
***
Regen prasselte auf den Asphalt, perlte von dem schneeweißen Schirm ab, unter dem Sibel durch die schwarzen Pfützen tanzte. In vollendeter Eleganz bahnte sie sich einen Weg durch das Geschubse der Schüler, die aus dem Schultor in die Freiheit der Ferien drängten. Ähnlich wie der Regen prasselten auch Sibels Worte auf Lys herab. Ein Wortschwall folgte dem anderen, ohne auf ihrer Hirnrinde auch nur den geringsten bleibenden Eindruck zu hinterlassen.
»Alkohol. Alkohol ist natürlich ein Problem. Nina hat mir ihr Cocktail-Buch ausgeliehen und den Mixer, und Cem würde mir auch was aus der Bar zur Verfügung stellen, aber du kennst ja meine Familie: Mama sorgt sich um meine Gesundheit, Papa um seinen guten Ruf und Oma um unser aller Seelenheil, sobald auch nur einer eine Flasche Bier aufmacht.«
Normalerweise wusste Lys Sibels endlosen Redefluss zu schätzen. Meistens ersparte ihr das, selbst reden zu müssen, und dafür war sie in den letzten Monaten sehr dankbar gewesen. Und wenn man Sibel tatsächlich mal zuhörte, lenkte einen das auch von den eigenen Gedankenschleifen ab. Lys hatte in der letzten Zeit eine wahre Kunstfertigkeit darin entwickelt, Gedanken beiseitezuschieben. Doch heute war es ihr unmöglich, sich auf Sibels Geplapper zu konzentrieren. Genauso unmöglich wie sich auf den Unterricht zu konzentrieren.
Am Sonntag stirbt Alison.
Oh, vergiss es. Es ist nichts und du weißt es!
»Meine Boxen taugen eben einfach nichts.« Sibel wandte sich nach rechts und
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