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Am Tor Zur Hoelle

Am Tor Zur Hoelle

Titel: Am Tor Zur Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Anshin Thomas
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erforschen und zu erkennen, bildet für mich den Kern, denn Achtsamkeit ist das einzig mögliche Gegenmittel für die Achtlosigkeit, die zu Komplizenschaft mit Grausamkeit, Gewalt und Genozid führt.
    Wie ich bereits erwähnt habe, war ein Bereich, für den ich auf dieser Pilgerreise zunehmend sensibilisiert wurde, das Ausmaß der Komplizenschaft, die auf Seiten Deutschlands, Europas und der übrigen Welt nötig war, um den Nazis zu ermöglichen, ihre Schreckensherrschaft auszuüben. Dass die nationalsozialistische Bewegung zu Beginn in ihrer Bedrohlichkeit von vielen nicht erkannt und lange Zeit nicht bekämpft wurde, ist eine unumstößliche Tatsache. Und wieder stellt sich die Frage, wo und inwiefern diese Dynamik auch in meinem Leben existiert und was ich tun muss, um mich mit ihr auseinander zu setzen.
    Wenn ich über diese Fragen nachsinne, finde ich nur eine Antwort, wie es möglich gewesen ist, dass eine solche Terrorherrschaft nicht bekämpft wurde: Die Regierungen aller Länder, die dabei zusahen, konnten ihre eigene Schuld nicht eingestehen. Einzuschreiten, die Stimme zu erheben, laut zu protestieren hätte bedeutet, dass sie individuell wie kollektiv auf irgendeine Weise hätten anerkennen müssen, selbst an einem derartigen Geschehen beteiligt zu sein und es zu befördern.
    Das wurde mir klar, als ich mir ansah, wie ich selbst in Bezug auf gewalttätiges oder Schaden anrichtendes Verhalten konditioniert worden war. Mir wurde beigebracht, keinen Widerspruch einzulegen, meine Stimme nicht zu erheben. Oberflächlich betrachtet, erscheint das wie ein guter Rat: der einfachere Weg, der Weg des geringsten Widerstandes. Ich wurde dahingehend erzogen, keinen Widerspruch einzulegen, meine Stimme nicht zu erheben, weil mich das von anderen abgesetzt und den Plan durchkreuzt hätte. Doch der eigentliche Grund, meine Stimme nicht zu erheben, lag nicht darin, dass Pläne durchkreuzt worden wären, sondern dass dies mein eigenes Verhalten in den Mittelpunkt gerückt hätte. Ein solcher Fokus wiederum macht das Verleugnen des eigenen Verhaltens weit schwieriger, wenn nicht gar unmöglich.
    Um die Arbeit des Friedens tun zu können, um die spirituelle Wirklichkeit des Lebens zu leben, muss ich begreifen, dass politisches Handeln – egal auf welcher Ebene (individuell, familial, gesellschaftlich oder national) – aus einer Position mutmaßlicher Überlegenheit ausbeuterisch, missbräuchlich und gefährlich ist. Also muss ich ergründen, wo diese Saat der Überlegenheit in meinem Leben liegt, wie sie sich manifestiert und wie ich mich nicht von ihr abwenden kann.
    Im Anschluss an diese Pilgerreise fuhr ich nach Mittelitalien, um ein Retreat in den Bergen in der Nähe von Piacenza abzuhalten. Nach diesem Retreat besuchte ich eine weitere Stadt: Portogruaro. Portogruaro liegt im Nordosten Italiens, auf halbem Wege zwischen Venedig und Triest. Ich war dorthin eingeladen worden, um vor einer großen Gruppe von Schülerinnen und Schülern einen Vortrag mit dem Titel »Die Saat der Gewalt, die Wurzeln des Krieges« zu halten. Weil mein Publikum aus etlichen verschiedenen Schulen kam, fand der Vortrag an einem zentralen Ort statt. Es kamen zwischen dreihundert und vierhundert junge Menschen im Alter von vierzehn bis achtzehn Jahren. Außerdem erschien eine beachtliche Anzahl Lehrerinnen und Lehrer.
    Dies war nicht mein erster Besuch in Portogruaro. Das erste Mal hatte man mich im Mai 1999 eingeladen, und jener Aufenthalt war eine Station auf meiner Reise in das Kriegsgebiet im Kosovo und in Serbien gewesen. Ich war eingeladen, um vor Schülerinnen und Schülern über die Natur des Krieges zu sprechen, weil sie von den kriegerischen Auseinandersetzungen tief in Mitleidenschaft gezogen waren – wie die meisten Menschen, die in dieser Gegend lebten. Portogruaro liegt so nah am Luftwaffenstützpunkt Aviano, jener Nato-Einrichtung, von wo aus ein Großteil der Bombardierungen ihren Ausgang nahmen, dass die Menschen die Bomber Tag und Nacht starten und zurückkehren hörten. Ihre Nähe zum Krieg warf für die Menschen die Frage auf, wann die Bomben auf ihre Stadt fallen würden.
    Ich wurde mit dem Auto von Portogruaro nach Padua gebracht, wo ich das Fahrzeug wechselte und von einem anderen Fahrer nach Vicenza gebracht wurde. Doch bevor wir Padua verließen, führte man mich in das alte Stadtzentrum, um das

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