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Am Tor Zur Hoelle

Am Tor Zur Hoelle

Titel: Am Tor Zur Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Anshin Thomas
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nur um zu atmen. Das ist Erwachen.
    Eine Pilgerreise ist nicht zwangsläufig zeitlich fest umrissen. Es mag einen Punkt geben, an dem die Wanderung für den einen oder die andere zu Ende ist, aber die Reise zum Erwachen kann einen Schritt oder auch tausend Schritte umfassen – es kann die Reise eines ganzen Lebens sein.
    Zeugnis ablegen über die fortwährenden
Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs
    1999 habe ich eine weitere Pilgerreise unternommen. Diesmal durch Deutschland. Ich bin in der Absicht losgewandert, so viele Orte wie möglich aufzusuchen, die unter dem Zweiten Weltkrieg gelitten haben, und Zeugnis abzulegen von den fortdauernden Auswirkungen dieses Krieges. Was nicht geplant war, aber dennoch geschah: der Besuch vieler Orte des Leidens, die aus den zahllosen Zeitaltern der Gewalt in der europäischen Geschichte stammen.
    Während dieser Pilgerreise legten sechs Menschen die gesamte Strecke von etwa zwölfhundert Kilometern zurück, und zwischen fünfundzwanzig und dreißig Menschen waren auf einzelnen Wegabschnitten dabei. An den Retreats, Andachten und Zeremonien, die wir an den verschiedenen Orten des Schreckens, des Missbrauchs, der Erniedrigung, der Folter und des Mordens durchführten, nahmen insgesamt etwa zweihundert Menschen teil.
    Die Erfahrungen dieser Pilgerreise, ihre Intensität, sind noch immer so nah, so dicht, dass ich es schwierig finde, sie vollständig zu durchdringen oder zu verarbeiten. Wir besuchten Auschwitz, wo über eine Million jüdischer Menschen ermordet wurden; Theresienstadt, wo mehr als dreißigtausend Menschen umkamen; Ravensbrück, wo sich Tausende zu Tode schuften mussten; und wir besuchten Buchenwald, wo an die sechzigtausend Menschen von den Nazis ermordet wurden und später weitere von den Sowjets; und Hadamar, die Landesheilanstalt, in der weit mehr als zehntausend Menschen innerhalb eines Zeitraums von sieben Jahren im Rahmen der sogenannten »Euthanasie-Aktion« ermordet wurden. Dies sind nur einige der vielen, vielen Orte, die wir hätten besuchen können, denn die Lager bildeten nur den Schlusspunkt eines Prozesses, der lange vor ihrer Planung seinen Anfang nahm. Die Entwicklung, die zur Einrichtung von Orten wie Auschwitz führte, setzt sich bis in unsere heutigen gesellschaftlichen Strukturen und in die gesellschaftlichen Strukturen anderer Länder in der ganzen Welt fort. Indem ich Zeugnis ablege, bin ich mir bewusst geworden, dass der Prozess, der zu diesen Gräueln, diesem Terror geführt hat, schleichend und alles durchdringend verläuft. Seine Saat liegt in der Natur dessen, was gemeinhin Zivilisation genannt wird.
    Ich wurde außerdem zunehmend dafür sensibilisiert, dass die Politik der Nazis nicht ohne die Komplizenschaft anderer Länder und Gesellschaften Europas (wie der übrigen Welt) hätte umgesetzt werden können. Nicht ohne die starke kollektive Verleugnung in der deutschen Gesellschaft und der kollektiven Verleugnung in der Welt insgesamt. Die Planung und Errichtung dieses Systems der Misshandlung und Ausbeutung, der Folter und des Terrors, die politischen Strukturen, mittels derer das alles ausgeführt werden konnte, waren kein Geheimnis. All das fand unter den Augen der Öffentlichkeit statt: auf der Weltbühne.
    Ich wurde außerdem zunehmend dafür sensibilisiert, wie gefährlich die Krankheit selbstgerechter Entscheidungsfindung ist. Dieser Prozess scheint auf der Projektion des eigenen Leidens auf externe Ursachen (Menschen, Orte, Gegebenheiten) zu basieren. Diese Art von auf Projektionen basierender Entscheidungsfindung ist gefährlich, auf welcher Ebene sie auch immer stattfindet. Und wenn wir uns nicht die gesamten, miteinander verknüpften Ereignisse anschauen, die zu der Ermordung von mehr als sechzig Millionen Menschen während dieses Abschnitts der Weltgeschichte (1929 bis 1945) geführt haben, wird dieser Kreislauf sich stets wiederholen. Wir haben dies in der Sowjetunion unter Stalin bezeugen können, während Maos Kulturrevolution in China, in Kambodscha unter Pol Pots Roten Khmer und bei den vergangenen Versuchen der Vereinigten Staaten, die amerikanischen Ureinwohner auszurotten, den fortwährenden Versuchen, die indigenen Völker der Welt auszurotten, bei den Ereignissen auf dem Balkan, in Ruanda, im Kongo, im Irak; auch die fortgesetzte Anwendung der Todesstrafe als akzeptierte Strafmaßnahme steht in diesem Zusammenhang oder

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