Am Ufer Des Styx
Tagesanbruch brechen wir auf.«
»Genau wie wir«, entgegnete die Gräfin gelassen und trank einen weiteren Schluck Tee.
»Wie werden Sie wissen, wann wir zurück sind?«
»Wir werden es wissen, keine Sorge. Kehrt einfach hierher zurück. Aber wagt es nicht, ohne das Elixier wieder aufzutauchen. Solltest du dich irren und deine Theorien sich als falsch herausstellen, so wird der gute Kamal sterben, vergiss das nicht.«
»Keine Sorge«, schnaubte Sarah. »Erinnern Sie sich lieber an Ihren Teil der Abmachung. Denn wenn Kamal bis zu meiner Rückkehr ein Unheil widerfährt, können Sie Ihr kostbares Elixier aus der hiesigen Kloake schlürfen.«
»Eine unappetitliche Vorstellung.«
»In der Tat.«
»Hoffen wir, dass es nicht dazu kommt.« Die Gräfin lächelte ungerührt. »Für beide Seiten.«
Sarah erwiderte nichts darauf. Sie hatte das Geplänkel satt und wollte endlich aufbrechen, um ihre Suche so rasch wie möglich hinter sich zu bringen und zu Kamal zurückzukehren. Ihn in der Obhut ihrer Feinde zurückzulassen brach ihr das Herz, aber sie hatte keine andere Wahl. Zumindest vorerst nicht …
»Sieh an. Da steht sie und schweigt, Gardiner Kincaids kluge, ach so gefährliche Tochter.«
»Wer hat das behauptet?«
»Manche«, entgegnete Czerny ausweichend. »Aber mir war von Beginn an klar, dass man nur den passenden Schlüssel finden muss, um dich gefügig zu machen. Ein Instrument spielt jedwede Melodie -sofern man es versteht, sie ihm zu entlocken.«
»Sie sind sich Ihrer Sache sehr sicher, nicht wahr?«
»Warum auch nicht? So wie ich es sehe, befindest du dich einmal mehr in unserer Gewalt. Und das, obwohl du glaubtest, jede nur erdenkliche Vorsichtsmaßnahme getroffen zu haben, nicht wahr?«
Zu gerne hätte Sarah widersprochen, aber sie konnte es nicht, denn jedes einzelne Wort entsprach der Wahrheit.
»Sie werden damit nicht durchkommen«, sagte sie, aber es klang längst nicht so überzeugend, wie sie es beabsichtigt hatte – eher nach hilflosem Trotz.
»Wer sollte uns aufhalten, Schwester? Auf dem gesamten Erdball gibt es nur eine Hand voll Menschen, die von unserer Existenz wissen, und die meisten davon stehen in unseren Diensten. Der alte Gardiner ist tot, und du – mit Verlaub – hast dich als eine weit weniger ernst zu nehmende Gegnerin erwiesen, als einige befürchtet hatten. Aber du tätest gut daran, deinen Ärger und deinen Zorn zurückzuhalten und dich auf deinen Auftrag zu konzentrieren. Dein Hass wird Kamal nicht ins Leben zurückbringen – nur das Wasser des Lebens vermag es. Also geh und finde es, zum Nutzen für uns alle.«
Zu den letzten Worten legte sich ein Grinsen über ihre Züge, das so selbstgefällig und zugleich voller Verachtung war, dass Sarah sich unwillkürlich fragte, was sie getan hatte, um sich den Zorn dieser Frau zuzuziehen, die unter anderen Bedingungen, zu einer anderen Zeit, vielleicht eine Vertraute, eine Freundin hätte sein können. Doch dies zu ergründen – dafür war jetzt nicht die Zeit. Wichtigere, dringliche Aufgaben standen bevor, die keinen Aufschub duldeten …
»Dies hier«, führte die Gräfin weiter aus und gab Hingis eine kleine, ledergebundene Mappe, »ist ein Passierschein, der Ihnen freies Geleit zusichert, solange Sie sich auf osmanischem Gebiet befinden. Unsere Organisation verfügt über hinreichend Mittel, um so etwas durchzusetzen.«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Sarah. »Ich frage mich, was der Fetzen wert sein wird, wenn wir griechischen Rebellen begegnen.«
»Das werdet ihr herausfinden, oder?«
»In der Tat.«
Ein letztes Mal trafen sich die Blicke der beiden Frauen, und die Luft um sie herum schien zu gefrieren.
»Auf bald«, sagte Ludmilla von Czerny nur.
Sarah blieb eine Antwort schuldig.
Sie wartete, bis Hingis seine Tasse geleert und sich schwerfällig von seinem Kissen erhoben hatte, dann wandten sich beide zum Gehen. Sie verließen die Zimmerflucht, die die Gräfin angemietet hatte, und kehrten in ihre eigenen Kammern zurück. Ihr Reisegepäck war bereits abgeholt und zur Karawanserei gebracht worden, es ging lediglich noch darum, die letzten privaten Gegenstände einzusammeln, die man unterwegs nicht entbehren wollte – in Sarahs Fall ihr Tagebuch sowie der Sam-Browne-Gürtel mit ihren Waffen.
Dass die Gräfin sie ihr nicht abgenommen hatte, legte nahe, dass auch ihr bewusst war, wie gefährlich und mit wie vielen Unwägbarkeiten verbunden diese Expedition sein würde, von deren erfolgreichem Ausgang
Weitere Kostenlose Bücher