Am Ufer Des Styx
versetzte.
»Nein«, gestand Hingis säuerlich, »das wusste ich tatsächlich nicht …«
»Sie sind ungefährlich«, suchte der Führer ihn zu beruhigen. »Bären noch viel schlimmer.«
»Bären?«, ächzte Hingis.
»Nai«, bestätigte Perikles, während er argwöhnisch an den umliegenden Felsen emporblickte und sein Pferd zügelte. »Auch ihretwegen ich mich nicht sorge …«
»Sondern?«, wollte Sarah wissen und lenkte ihr Pferd neben das seine. »Haben Sie etwas entdeckt?«
»Schhh«, machte der Führer und presste die Hand auf den Mund, um ihr zu bedeuten, dass sie schweigen sollte. Dann legte er den Kopf in den Nacken wie ein Tier, das Witterung aufnahm, und lauschte angestrengt in den Wind. »Nichts zu hören«, stellte er dann fest. »Tamam.«
Sarah blickte sich nach den anderen um, die ihre Reittiere ebenfalls angehalten hatten, einschließlich der Maulesel, die das Gepäck trugen. In den Gesichtern der Träger stand Betroffenheit zu lesen, vielleicht auch ein wenig Angst …
»Was befürchten Sie?«, fragte Sarah leise.
»Klephten«, entgegnete Perikles knapp. »Oder Türken. Da ist kein Unterschied.«
»Klephten?«, fragte Sarah.
»So nennen sich griechische Kämpfer, die sich in Bergen verstecken. Haben Süden befreit, aber wollen mehr. Türken nicht bereit zu geben.«
»Das alte Lied.« Sarah nickte. »Aber was haben wir damit zu tun?«
Der Blick, den der sonst so unbeschwert wirkende Makedone ihr sandte, war düster. »Türken halten Pass besetzt«, stellte er klar, »Klephten manchmal angreifen. Wenn kämpfen, besser nicht kommen dazwischen, sonst thánatos.«
»Ich verstehe«, sagte Sarah, deren Kenntnisse in Altgriechisch ausreichten, um zumindest dieses eine Wort zu verstehen.
Sie wusste nicht viel über den Freiheitskampf der Griechen, außer dass er bereits vor mehr als sechzig Jahren begonnen hatte und von beiden Seiten mit grausamer Härte geführt wurde. Im Jahr 1821 hatte der Erzbischof von Patras die Revolte angezettelt, zu deren Beginn in der Stadt Tripoli zahllose Türken von griechischen Rebellen massakriert worden waren. Die osmanischen Machthaber revanchierten sich grausam und ließen ein Jahr später in Chios Zehntausende von Griechen töten, als abschreckendes Beispiel für alle Aufrührer – was die Flamme des Widerstands jedoch nur nährte, zumal die Hellenen von da an Hilfe aus dem Ausland erhielten.
Im Oktober 1827 war es dann in der Bucht von Navarino zu einer Seeschlacht gekommen, bei der französische, russische und auch britische Schiffe gegen die zahlenmäßig weit überlegene Flotte des türkischen Statthalters Ibrahim Pascha standen und dennoch den Sieg davontrugen. Der Peloponnes und Teile Mittelgriechenlands waren daraufhin aus dem Reichsverbund ausgelöst und unabhängig geworden, womit jedoch ein zähes Ringen um die nördlichen Grenzen der neu gegründeten Nation eingesetzt hatte, das bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt anhielt und noch keinen eindeutigen Sieger hervorgebracht hatte. Etwas jedoch schien sich über diesen wie über jeden anderen Konflikt sagen zu lassen, in dem es um politische Macht und abstrakte ideologische Ziele ging.
Die Ideale waren das erste Opfer, das auf dem Schlachtfeld gebracht wurde …
»Anführer der Klephten soll ein Mann mit Namen Anasthatos sein«, erklärte Perikles weiter. »Man erzählt viele Geschichten über ihn, aber nur wenige ihn je gesehen – und ich nicht will dazugehören.«
»Ich ebenfalls nicht«, erklärte Sarah, die kein Verlangen danach verspürte, die Bekanntschaft eines Gesetzlosen zu machen. Ärger hatte sie auch so schon genug.
Die Karawane setzte ihren Weg fort. Je weiter sie hinaufgelangten, desto kälter wurde es, und trotz ihrer pelzgefütterten Jacke begann Sarah erbärmlich zu frieren. Es war kurz nach Mittag, als es zu schneien anfing. Kleine Flocken fielen lautlos herab, überdeckten die Straße und die angrenzenden Bäume mit einer weißen Schicht, die jedes Geräusch dämpfte und die wilde, zerklüftete Landschaft weniger bedrohlich aussehen ließ -was jedoch ein gefährlicher Trugschluss gewesen wäre.
Am Nachmittag erreichten sie die Passhöhe. Felsen und Bäume waren schneebedeckt, ebenso wie die Dächer der gedrungenen, grob gemauerten Gebäude, die die Straße säumten. Der Weg selbst jedoch war frei, wie Perikles erleichtert anmerkte. Sarah sah es mit einem lachenden und einem weinenden Auge, denn natürlich fragte sie sich, wie sie unter diesen Bedingungen wieder zurückgelangen
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