Am Ufer Des Styx
gebirgige Wildnis, die nur von winzigen Dörfern oder vereinzelten Klöstern unterbrochen wird, deren Bewohner die Einsamkeit schätzen.
Dieses urwüchsige Grenzland zwischen dem Reich der Osmanen und dem erst vor wenigen Jahren unabhängig gewordenen Thessalien, in dem nach wie vor Scharmützel zwischen türkischen Soldaten und griechischen Freischärlern an der Tagesordnung sind, ist unser Ziel. Denn auf der anderen Seite dieser rund einhundert Meilen Unwägbarkeit und Gefahr verläuft der Acheron …
K ATARA -P ASS , P INDOS -G EBIRGE
30. O KTOBER 1884
Steil hinauf wand sich die schmale Straße, die von den Tälern Makedoniens an den Hängen des Pindos emporführte. Schroffer, grauer Fels erhob sich jäh aus der grünen Landschaft und türmte sich zu ungeahnten Höhen, deren Gipfel weiß gefärbt waren. Die Wälder unterhalb der schneebedeckten Höhen trugen sämtliche Schattierungen von Rot und Braun, durchbrochen vom Immergrün der Nadelbäume und von spärlicher Phrygana, die selbst auf diesen steilen Felshängen und auf kahlen Hügelkuppen gedieh.
Bislang hatten Sarah und ihre Begleiter das große Gebirge stets zur ihrer Rechten gehabt – nun jedoch, da sie das Bergdorf Metsovon hinter sich gelassen hatten, sahen sie das Massiv als riesigen, schier unüberwindlichen Wall vor sich aufragen, auf dessen andere Seite sie mussten. Den einzigen um diese Jahreszeit noch gangbaren Weg bildete der Pass von Katara, zu dem der Weg in engen Serpentinen emporführte. Während zur einen Seite der Straße der Fels fast senkrecht anstieg, boten sich zur anderen immer wieder atemberaubende Aussichten auf ebenso enge wie tiefe Täler, deren Grund von üppiger Vegetation bedeckt war und über denen majestätisch die Adler kreisten.
Nachdem sie mehrere Nächte unter freiem Himmel verbracht und in den durchnässten Zelten erbärmlich gefroren hatten, hatte Metsovon zumindest wieder ein festes Dach über dem Kopf geboten, eine Annehmlichkeit, in deren Genuss Sarah und ihre Begleiter nun eine ganze Weile nicht mehr gelangen würden. Der Regen, der die kleine Karawane einige Tage lang begleitet hatte, hatte ausgesetzt, gleichwohl war der Himmel von dunklen, tief hängenden Wolken bedeckt, die sich angesichts der stetig sinkenden Temperaturen aber jederzeit in heftigen Schneefällen entladen konnten. Die Zeit drängte daher, und die Karawane gönnte sich nur so viel Rast, wie unbedingt nötig war.
Vorsichtig lenkte Sarah, die in der Kolonne unmittelbar hinter Perikles ritt, ihr Pferd, einen ebenso braven wie ausdauernden Schecken, über die schmale Straße. Loses Geröll und Unebenheiten waren eine Gefahrenquelle, Schlangen eine andere. Als ein durchdringendes, schauriges Heulen erklang, warf das Tier sein Haupt zurück und wieherte erschrocken auf.
»Was war das?«, erkundigte sich Hingis, der hinter Sarah ritt, den Fes auf dem Kopf und den Pelzmantel wie einen Umhang um die Schultern gelegt, um sich vor dem kalten, unberechenbaren Wind zu schützen.
»Nur ein Wolf«, rief Perikles über die Schulter zurück im Brustton der Selbstverständlichkeit. In den vergangenen Tagen hatten sie ihren Führer als zuverlässigen, durch und durch bodenständigen Zeitgenossen kennen gelernt, der, wie er nicht müde wurde zu erzählen, aus dem Dörfchen Vergina stammte, wo er eine Frau und sieben Kinder hatte. Der kräftige und eher untersetzte Mann, in dessen sonnengebräuntem Gesicht ein wahres Ungetüm von Nase wucherte, war Makedone von Geburt, wie so viele seiner Landsleute jedoch von den osmanischen Sitten geprägt, was sich schon in seiner Kleidung niederschlug: Zu derben Reitstiefeln aus Wildleder trug er türkische Pluderhosen und die obligatorische Schärpe um die Hüften, in der eine orientalisch anmutende, gekrümmte Klinge sowie ein Revolver steckten. Darüber fiel ein in Blautönen gestreiftes Hemd, das nach griechischer Mode geschnitten war, sowie eine wärmende Weste aus Lammfell. Die Kopfbedeckung bildete ein Fes, um den ein weißer Turban gewickelt war. Die Träger und der Koch waren ähnlich gekleidet und belegten damit, wie sehr türkische Sitten und Gewohnheiten das griechische Leben in den vergangenen mehr als vierhundert Jahren geprägt hatten.
»Wolf?«, echote der Schweizer nicht eben erfreut.
»Evet, im Pindos gibt es jede Menge davon, Sie nicht wussten?«, erkundigte sich Perikles, der die englische Sprache leidlich beherrschte und sie hin und wieder mit einem Brocken Dimotiki 5 oder Türkisch
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