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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Beamtenapparates, und einmal mehr nimmt mich das geflügelte Wort vom »kranken Mann vom Bosporus«, das in der westlichen Presse gepflegt wird, nicht Wunder.
    In Usküb wurde unser Wagen erneut umgehängt, sodass wir uns nun auf der Zielgeraden befinden, Saloniki entgegen. Das steinige, zerklüftete Land zeigt sich zu dieser späten Jahreszeit kahl und trostlos. Siedlungen gibt es kaum, und wenn, so bestehen sie aus wenig mehr als kleinen Dörfern oder Gehöften, deren Bewohner ebenso karg und ärmlich aussehen wie die Landschaft selbst. Es fällt mir recht schwer zu glauben, dass wir uns Griechenland nähern, der Wiege der europäischen Kultur, und doch winkt am Ende dieser Passage die weite, blaue Fläche der Ägäis wie ein ferner Preis, den es zu erringen gilt.
    24. O KTOBER 1884
N ACHTRAG
    In den späten Abendstunden haben wir Saloniki erreicht, eine Hafenstadt, wie sie im Buche steht. Unzählig sind die Häuser, die rings um das ovale Hafenbecken an den Berghängen emporzuwachsen scheinen, überragt von den Türmen der Kirchen und Minarette, die zu gleichen Teilen in den kalten, blauen Himmel ragen und von der wechselvollen Vergangenheit der Stadt unter ihren verschiedenen Herren zeugen. Im Hafen liegen Schiffe aus aller Herren Länder vor Anker: Frachter aus Piräus, Alexandria, Venedig oder noch ferneren Orten; Passagierschiffe, die nach Konstantinopel fahren und durch den Bosporus ins Schwarze Meer, bis an die ferne Krim; aber auch stählerne Kriegsfregatten, mit denen der kranke Mann vom Bosporus sein im Niedergang begriffenes Reich zusammenzuhalten sucht.
    Obwohl wir uns noch innerhalb der osmanischen Grenzen befinden, glaube ich die Unruhe zu spüren, die sich dieser Gegend bemächtigt hat. Die Flamme der Revolte, die in Athen entzündet und seither immer weiter nach Norden getragen wurde, scheint auch hier dankbare Nahrung zu finden, und die Herrschaft der türkischen Besatzer scheint ebenso brüchig wie die Mauer, die vor mehr als vierhundert Jahren um die Stadt gezogen wurde und von der kaum noch etwas übrig ist, von dem großen, weißen Turm abgesehen, der wie ein einsamer Wächter über das Hafenbecken blickt.
    Unser Führer trägt den bezeichnenden Namen Perikles. Ein Grieche von vielleicht dreißig Jahren, der mir in der Sache kundig und halbwegs vertrauenswürdig erscheint, schon deshalb, weil die Czerny ihn offenbar nicht leiden mag. Die Träger, die sie schon von Prag aus bestellt hat, habe ich allesamt abgelehnt und mit Perikles’ Hilfe eigene Leute ausgesucht. Das Letzte, was ich möchte, ist ein Spion in meinen Reihen.
    Der Tag unseres Aufbruchs wurde festgesetzt, es ist der 26. Oktober. Der schwerste Augenblick dieser Reise steht mir damit unmittelbar bevor – der Abschied von Kamal …
    H OTEL A THOS , S ALONIKI
S PÄTER N ACHMITTAG DES 25. O KTOBER 1884
    »Kamal?«
    Wie so oft in den Tagen und Wochen, die seit jenem schicksalhaften Tag in Newgate verstrichen waren, beugte sich Sarah über ihren Geliebten, um ihn auf Stirn und Augen zu küssen und ihn so ihrer Zuneigung zu versichern. Wie an all den anderen Tagen wusste sie auch diesmal nicht, ob er sie hören konnte – aber nie zuvor hatte sie es so inständig gehofft wie in diesem Augenblick …
    »Verstehst du, was ich sage, Geliebter?«, flüsterte Sarah, sodass wenn überhaupt nur Kamal sie hören konnte, nicht aber Cranston, der auf der anderen Seite des Hotelzimmers stand und sie mit Argusaugen taxierte. Ein echter Gentleman hätte sich dem Fenster zugewandt und ihnen diesen letzten privaten Augenblick gelassen, ehe sich ihre Wege vielleicht für immer trennten. Der Arzt aus Bedlam jedoch war weit davon entfernt, ein Gentleman zu sein, wie Sarah festgestellt hatte. Nicht genug damit, dass er sie unverwandt anstarrte – ein gehässiges Grinsen hatte sich zudem auf seine hageren Züge gelegt.
    Sarah versuchte, es zu ignorieren und sich diesen letzten Moment der Zweisamkeit um keinen Preis nehmen zu lassen. Die Zornesfalte auf ihrer Stirn verschwand und wich einem milden Lächeln, als sie das Antlitz ihres Geliebten betrachtete. Irrte sie sich, oder sah Kamal besser aus als an den Tagen zuvor? Vielleicht, sagte sie sich, bekam ihm die Seeluft.
    Kamals Züge wirkten entspannter und weniger gerötet, und sie hatte das Gefühl, seinen Puls wieder deutlicher fühlen zu können. Liebevoll betrachtete sie sein ebenmäßiges Gesicht, streichelte seine Wangen und die feuchte Stirn, ehe sie ihn abermals küsste.
    »Ich muss jetzt gehen,

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