Am Ufer Des Styx
alles abhing.
2.
R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
26. O KTOBER 1884
Die Expedition hat begonnen. Früh am Morgen haben wir Saloniki in westlicher Richtung verlassen. Außer aus Perikles, unserem Führer, besteht unser Zug aus vier walachischen Maultiertreibern, die nicht nur für den Transport unseres Gepäcks und die Versorgung der Tiere, sondern auch für den Auf- und Abbau der Zelte und des Lagers verantwortlich sind, sowie aus einem Koch – einem alten Griechen namens Alexis, der uns von Perikles empfohlen wurde und der in der Lage ist, einem einfachen Eisenkessel wahre Wohlgerüche zu entlocken. An Bewaffnung führen wir mehrere Hinterlader-Gewehre mit uns, dazu zwei Revolver. Die Pferde, auf denen wir reiten, sind brave, ausdauernde Tiere, während das Gepäck auf Mauleseln verstaut wurde, die hier so alltäglich sind wie die Handkarren der fliegenden Händler in den Straßen Londons.
Die Landschaft ist von geradezu atemberaubender Schönheit. Von Osten kommend, durchqueren wir ein von zahlreichen Flussläufen durchzogenes, fast lieblich zu benennendes Land, das im Norden vom gewaltigen Massiv des Pindos-Gebirges und im Süden von den schroffen Felsen des Olympos begrenzt wird, der den alten Griechen als Heimat und Sitz der Götter galt. Zypressen und Olivenbäume gedeihen wild auf urwüchsigen Wiesen, auf denen Herden von Ziegen grasen: Ein Bild des Friedens, von dem ich mir wünschte, Kamal könnte es sehen.
Wie sehr ich ihn vermisse!
Nie zuvor in meinem Leben habe ich mich innerlich so zerrissen gefühlt und habe den Beginn einer Erkundung zugleich so gefürchtet und so herbeigesehnt. Mir ist bewusst, dass – wenn überhaupt – nur der Erfolg unserer Mission Kamal retten kann. Gleichzeitig ist mir jedoch klar, dass Friedrich Hingis nur zu Recht hatte und das Wasser des Lebens in den Händen ruchloser Verbrecher ein unkalkulierbares Risiko darstellt. Während sich mein Herz nichts sehnlicher wünscht, als Kamal zu heilen und ihn ins Leben zurückzuholen, rät mir mein Verstand zur Vorsicht. Stärker noch als beide jedoch ist die Neugier, die mich in diesen Tagen antreibt und die das Geheimnis ergründen will, das sich um jene geheimnisvolle Flüssigkeit rankt. Über die Konsequenzen kann und will ich mir zu diesem Zeitpunkt noch keine Gedanken machen, obschon mein Gewissen mich dazu drängt …
27. O KTOBER 1884
Nachdem uns das Wetter in den letzten Tagen halbwegs wohlwollend gesonnen war, hat es heute Morgen heftig zu regnen begonnen. Unser Ritt wird dadurch nicht nur unbequem, sondern auch beschwerlich, denn der Regen lässt Bäche und Flüsse anschwellen und sorgt dafür, dass die meist unbefestigten Straßen in einen beklagenswerten Zustand geraten.
Um unsere Ausrüstung zu schonen, ziehen wir es vor, in den Herbergen zu nächtigen, von denen es hier so viele gibt. Gelegenheit, uns von den Strapazen des tagelangen Ritts zu erholen, erhalten wir jedoch kaum. Unbarmherzig treibt unser Führer uns zur Eile an, denn mit jedem Tag, der verstreicht, steigt das Risiko des Wintereinbruchs in den Bergen, was zur Folge hätte, dass die Pässe geschlossen werden und es kein Durchkommen mehr gibt.
Was dies bedeuten würde, mag ich mir gar nicht ausmalen, und ich bete, dass uns das Wetter gewogen bleibt …
28. O KTOBER 1884
Wir haben Siátista erreicht, eine einstmals türkische Siedlung, die durch den Handel mit Pelzen zu Wohlstand gelangt ist.
Auf Perikles Anraten haben Friedrich und ich uns in der Stadt mit warmer Kleidung versorgt. Zwar zeigt sich der Herbst in Thessalien nicht so grimmig wie im fernen London und wartet trotz der niederen Nachttemperaturen mit mildem Tageswetter auf; auf den Passhöhen jedoch, die wir überqueren müssen, herrscht empfindliche Kälte. Die Jacke, die ich erstanden habe, ist innen mit wärmendem Zobel gefüttert, während die Außenhaut aus Rossleder besteht, dessen zähe Beschaffenheit den Anforderungen der Expedition gewachsen scheint. Friedrich hat sich für einen Mantel aus Bärenfell entschieden, der ihn beinahe so breit wie hoch erscheinen lässt und sich mit dem Fes auf seinem Kopf zu einem reichlich seltsamen Bild komplettiert.
Siátista ist gleichzeitig der letzte Außenposten von dem, was meine britischen Landsleute als die zivilisierte Welt bezeichnen würden: Große Kürschnermanufakturen, in denen die Pelze verarbeitet werden, sowie prunkvolle Herrenhäuser im osmanischen Stil prägen das Stadtbild; südlich und westlich davon erstreckt sich raue,
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