Am Ufer Des Styx
sollte …
Wie ihr Führer angekündigt hatte, wurde der Pass, der sich in unmittelbarer Nähe der Grenze befand, von türkischen Soldaten kontrolliert. Wohin sie auch blickte, sah Sarah in dunkelblaue Uniformen gekleidete Kämpfer, zu deren Erscheinungsbild der rote Fes ebenso gehörte wie die obligatorische Schärpe. Die kurzen Jacken der Offiziere waren goldbetresst und mit arabesken Mustern bestickt, die auf das Traditionsbewusstsein der Osmanen schließen ließen, ebenso wie die Oberlippenbärte, die in den Gesichtern der Soldaten sprossen.
Wie Sarah nicht anders erwartet hatte, wurden sie angehalten und kontrolliert. Mit vorgehaltenem Remington-Gewehr und aufgepflanztem Bajonett wurden die Reisenden aufgefordert, aus den Sätteln zu steigen, und ein ganzer Pulk von Soldaten ging daran, das Gepäck zu durchsuchen. Was ihnen dabei brauchbar erschien, beschlagnahmten sie kurzerhand – unter anderem wärmende Strümpfe aus Schweizer Herstellung sowie einen Behälter mit Petroleum. Obwohl sie vermutlich beides gut hätten brauchen können, ließ Sarah die Türken gewähren. Noch ungleich wichtiger war, dass sie den Pass möglichst rasch hinter sich ließen …
Der Hauptmann der Truppe sprach kein Englisch. Mit Perikles als Übersetzer ließ Sarah ihn wissen, dass sie eine ebenso reiche wie exzentrische Britin wäre, die sich in den Kopf gesetzt hätte, die antiken Stätten zu besuchen. Vermutlich fügte ihr Führer noch etwas hinzu, denn der Hauptmann, dessen Blick zuvor noch voller Argwohn gewesen war, wirkte plötzlich gelöst, ja sogar heiter. Lachend nahm er den Passierschein in Empfang und prüfte ihn, dann wies er seine Leute an, den Weg freizugeben.
Einigermaßen verwundert stieg Sarah wieder in den Sattel, sehr zum Amüsement der Soldaten, die offenbar noch nie eine Frau auf einem Pferd gesehen hatten, noch dazu im Männersitz reitend. Sarah ließ auch das über sich ergehen – Hauptsache, sie konnten ihre Reise fortsetzen und gelangten möglichst rasch auf die andere Seite.
Ein schmaler Hohlweg führte in einer engen Kurve von der Passhöhe herab. Der Schneefall wurde noch dichter, sodass die Sicht nur noch an die dreißig Yards betrug.
»Kakó«, meinte Perikles besorgt. »Wir hätten auf der Passhöhe bleiben und dort übernachten sollen.«
»In Gesellschaft der Soldaten?«, fragte Sarah, die sich Angenehmeres vorstellen konnte, als unter einer Meute von Kerlen zu nächtigen, die seit Wochen, womöglich Monaten keine Frau mehr zu Gesicht bekommen hatten. »Nein, danke.«
»Sie klug gehandelt«, anerkannte der Makedone.
»Inwiefern?«
»Nicht versuchen, Hauptmann zu bestechen. Sein kein Effendi, sondern Offizier. Mann von Ehre. Niemals beleidigen.«
Sarah begriff, worauf ihr Führer hinauswollte. Offenbar gab es zumindest unter den osmanischen Militärs noch einige, die treu zum Reich und zu ihrem Sultan standen. »Was haben Sie dem Hauptmann eigentlich vorhin gesagt?«, wollte sie wissen. »Er schien plötzlich sehr amüsiert zu sein …«
»Nicht wichtig«, wehrte Perikles ab.
»Und ob es wichtig ist«, beharrte Sarah streng und zügelte ihr Pferd, um klarzumachen, dass sie es ernst meinte. »Ich möchte es wissen, hörst du?«
»Wirklich?« Auch Perikles hielt sein Pferd an, seinem Mienenspiel war jedoch zu entnehmen, dass er nicht mit der Wahrheit herauswollte.
»Allerdings.«
»Endáxei - aber müssen versprechen, armen Perikles nicht zu schelten.«
»Wieso sollte ich dich schelten?«
»Weil haben gesagt, dass …« Er blickte sich zu Hingis um, schien es jedoch nicht über sich zu bringen, es laut auszusprechen. Stattdessen winkte er Sarah zu sich heran, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Sie tat ihm den Gefallen, beugte sich im Sattel zu ihm hinüber, lauschte – und erlebte eine Überraschung.
»Du … du hast ihm gesagt, dass Dr. Hingis und ich verheiratet wären?«, fragte sie mit großen Augen. »Und dass er unter meinem Pantoffel stünde?«
»Ungefähr«, stimmte der Führer kleinlaut zu.
»Das … das ist ungeheuerlich«, platzte es aus Sarah heraus. »Wie kannst du behaupten, dass …«
»Sarah«, ließ sich Hingis plötzlich vernehmen.
»Was?«, schnaubte sie.
»Ich glaube, Perikles hat gut daran getan, zu einer kleinen Notlüge zu greifen – denn ich verspüre kein Verlangen danach, zu enden wie diese hier.«
Er deutete zur gegenüberliegenden Seite der Straße, worauf Sarah den Blick wandte und scharf die Luft einsog. Am Wegesrand standen vier Bäume – an
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