Am Ufer Des Styx
darauf. »Das habe ich.«
»Sie seltsame Frau.«
Sarah musste lachen. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben, habe ich schon schmeichelhaftere Komplimente bekommen«, erwiderte sie. »Aber zur Not nehme ich auch dieses.«
»Warum das alles tun?«, erkundigte sich der Führer. »Warum nehmen das hier auf sich?«
»Um den Mann zu retten, den ich liebe«, erklärte Sarah ohne Zögern. »Können Sie das verstehen?«
»Nai«, bestätigte der Führer und klopfte sich an die Brust. »Ich Grieche. Griechen immer verstehen die Liebe, vor allem die Frauen. Denken Elektra, denken Penelope! Gewartet zwanzig lange Jahre auf Rückkehr von Odysseus!«
»Das ist wahr.« Sarah nickte.
»Auch Ihr Geliebter auf Irrfahrt?«
»Gewissermaßen«, bestätigte Sarah wehmütig. Ohne es zu ahnen, hatte Perikles den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber nicht nur Kamal war auf einer fernen Odyssee gefangen, die ihn daran hinderte, nach Hause zurückzukehren, sondern auch sie selbst – und inmitten der eisigen Kälte und des Sturmes, der inzwischen draußen tobte und heulenden Wind durch die Ruine des alten Bauernhauses schickte, kam es Sarah plötzlich unwahrscheinlich vor, dass sie einander jemals wieder begegnen würden.
Die Aussichten waren gering …
P INDOS -G EBIRGE , E PIRUS
31. O KTOBER 1884
Die Dämmerung hatte gerade erst eingesetzt, als Sarah geweckt wurde – entsprechend schläfrig war sie, denn sie hatte die Wachschicht nach Mitternacht übernommen und war erst vor wenigen Stunden von Alexis abgelöst worden.
Das Erste, was sie sah, als sie die Augen aufschlug, war das Gesicht von Perikles, der über ihr stand und ihr zu schweigen gebot, und an den tiefen Furchen, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten, erkannte Sarah sofort, dass etwas nicht stimmte.
Jäh schoss sie von ihrem Lager hoch und war schlagartig hellwach. Im Halbdunkel der Kammer sah sie Hingis kauern. Zu Sarahs Bestürzung war der Schweizer dabei, die Gewehre zu laden.
»Was …?«, wollte sie flüsternd fragen, aber Perikles legte nur den Finger auf den Mund und bedeutete ihr, mit ihm zu kommen.
Vorsichtig, damit keine der morschen Dielen unter ihren Tritten brach, schlichen sie zur Vorderseite des Gebäudes, vorbei an den Treibern, die bei den Tieren standen und sie beruhigend tätschelten, damit sie keinen Laut von sich gaben. Das Feuer im Kamin war längst erloschen. Eisige Kälte herrschte innerhalb der brüchigen Mauern, und heulender Wind trieb hier und dort einzelne Schneeflocken herein. Offenbar hatte es in der Nacht bis ins Tal geschneit …
Sarah fühlte, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte, während sie Perikles hinterherschlich, gefolgt von Hingis, der die geladenen Gewehre schleppte. Bang fragte sich Sarah, was vorgefallen sein mochte, als sie auf Alexis trafen. Der Koch hatte sich unter einem der glaslosen Fenster verschanzt, das in die Vorderseite des Bauernhauses eingelassen war und damit zur Straße blickte. Mit einem warnenden Blick gab er seinen Gefährten zu verstehen, dass sie vorsichtig sein sollten, und Sarah glaubte, in seinen Augen Furcht zu erkennen.
Mehr noch, nackte Todesangst …
In gebückter Haltung, damit sie von draußen nicht gesehen werden konnten, näherten sie sich dem Fenster und ließen sich links und rechts davon nieder. Dann erst riskierte Sarah einen vorsichtigen Blick hinaus.
Wie sie feststellte, hatte sie mit ihrer Vermutung Recht gehabt. Die Temperaturen waren abermals gefallen, sodass die peitschenden Regenschauer gegen Morgen in Schnee umgeschlagen waren. Eine zwei Hand breit dicke Schicht bedeckte sowohl die Lichtung als auch die Straße, die in einiger Entfernung verlief, um sich ein gutes Stück talwärts zwischen verschneiten Bäumen und Felsen zu verlieren. Davor jedoch gewahrte Sarah einige schemenhafte Gestalten.
Da sie helle Umhänge trugen, waren sie vor dem weißen Hintergrund und im fahlen Licht des Morgens nicht sofort zu entdecken, was durchaus beabsichtigt schien. Bewaffnet waren die Männer – Sarah zählte fünf – mit klobigen Vorderladern, deren Läufe mit Leder umwickelt waren, um sie vor Regen und Schnee zu schützen.
Die Frage, wer die Männer waren, erübrigte sich. Sarah hegte keinen Zweifel daran, dass es Klephten waren, jene unerschrockenen Kämpfer, die die Unabhängigkeit Griechenlands auf dem Schlachtfeld errungen hatten und auch jetzt noch dabei waren, einen zermürbenden Kleinkrieg gegen die Türken zu führen, um ihnen noch mehr Gebiete und weitere Zugeständnisse
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