Am Ufer Des Styx
abzutrotzen.
Unwillkürlich dachte Sarah an die Gehenkten, die sie am Straßenrand gesehen hatten, und sie konnte nicht anders, als diesen Leuten Respekt zu zollen, die unter Einsatz ihres Lebens für ihre Sache kämpften. Flüsternd wollte sie sich bei Perikles erkundigen, weshalb sie sich vor den Freischärlern versteckten, als sich draußen etwas regte.
Offenbar hatten die fünf Männer nur die Vorhut eines größeren Verbandes gebildet, denn unvermittelt drangen aus dem verschneiten Dickicht noch weitere weiß gekleidete Gestalten, einige davon zu Pferd, einige zu Fuß. In ihrer Mitte führten sie zwei elend aussehende Männer, die gefesselt waren und die sie hinter sich her zerrten. An den dunkelblauen Uniformen erkannte Sarah sofort, dass es sich um türkische Soldaten handeln musste.
Gefangene …
Der Zug, der insgesamt aus zehn oder zwölf Mann bestehen mochte, hielt an, und man zwang die beiden Türken, sich in den Schnee zu knien. Ein hochgeschossener Klephte, der der Anführer des Trupps zu sein schien, schwang sich aus dem Sattel, trat vor die Gefangenen und wechselte einige Worte mit ihnen. Was gesprochen wurde, war aufgrund der Distanz und des heulenden Windes nicht zu verstehen.
Das Gespräch endete jäh. Unvermittelt griff der Anführer der Widerstandskämpfer an seinen Gürtel und zückte den Krummdolch, der dort steckte – dann ging alles blitzschnell.
Entsetzt sah Sarah den einen Türken niedersinken. Die Klinge des Anführers hieb ein zweites Mal zu, und auch der zweite Gefangene kippte nach hinten, von einer Blutfontäne begleitet, die niederspritzte und den Schnee ringsum grellrot färbte. Kurzerhand hatte der Klephte seinen Feinden die Kehlen durchschnitten. Ohne Zögern und – wie es schien – auch ohne Reue.
Abrupt wandte er sich ab, die beiden tödlich Verwundeten, von denen der eine noch in wilden Krämpfen zuckte, keines Blickes mehr würdigend. Er würde sie liegen lassen, als Warnung an seine Feinde – so wie es die Türken oben am Pass mit den Rebellen getan hatten.
Sarah begriff, dass dies die Regeln dieses grausamen Spiels waren, die Logik des Schreckens. Und ihr wurde klar, dass sich die verfeindeten Parteien in diesem Konflikt nicht nach Gut und Böse kategorisieren ließen, sondern sich an Grausamkeit und Entschlossenheit in nichts nachstanden. Am liebsten hätte sie ihr Entsetzen und ihren Zorn über diese Gräueltat laut hinausgeschrien, aber dies hätte ihrer aller Ende bedeutet, da die Freischärler gewiss keine Zeugen am Leben lassen würden. Also zwang sie sich mit aller Macht, zu schweigen – und nahm erleichtert zur Kenntnis, dass die Klephten weiterzogen.
Die Reiter stiegen wieder in die Sättel und wollten aufbrechen, als abermals etwas Unerwartetes geschah.
Mit vier schussbereit geladenen Hinterladern im Arm kauerte Friedrich Hingis auf dem Boden – eine Belastung, der die morschen Dielen nicht länger standhielten. Mit hässlichem Knacken gab zunächst eine, dann noch eine zweite Diele nach, und der Schweizer brach ein. Zwar beschränkte sich die Tiefe des Sturzes auf ein halbes Yard, jedoch war der Schrecken so groß, dass Hingis ein spitzer Schrei entfuhr, der den Klephten nicht verborgen blieb.
Alarmiert fuhren sie herum und blickten in Richtung des Hauses. Augenblicklich gingen Sarah und ihre Gefährten in Deckung. Der Argwohn der Widerstandskämpfer jedoch war geweckt.
»Verdammt«, zischte Perikles.
Man konnte hören, wie der Anführer der Klephten einigen seiner Leute etwas zurief, dann kehrte Stille ein.
»Was geschieht dort draußen?«, erkundigte sich Sarah flüsternd, worauf Perikles einen vorsichtigen Blick über die Brüstung wagte.
»Sie kommen zum Haus«, erstattete er Bericht.
»Wie viele?«
»Zwei.«
Sarah wog ihre Chancen ab. Mit zweien der Kerle fertig zu werden würde kein Problem darstellen. Aber dann wären die anderen gewarnt, und ein zäher Kampf würde einsetzen, der nicht nur zahlreiche Menschenleben fordern, sondern auch Zeit in Anspruch nehmen würde; Zeit, die immer knapper wurde …
Hingis, der noch in seinem Loch im Boden stand, gab die Gewehre weiter. Sein Blick war schuldbewusst, denn ihm war klar, dass sie nur seinetwegen in diese hässliche Situation geraten waren. Dennoch gab es von niemandem ein Wort des Vorwurfs.
Sarah nahm die Waffe entgegen, die er ihr reichte, während sie weiter fieberhaft überlegte, was zu tun war. Sollten sie abwarten? Die beiden Späher noch näher herankommen lassen?
Nein.
Die
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