Am Ufer Des Styx
mildernd auswirken dürfte. Allerdings darf diese Chance in Anbetracht des Umstandes, dass die Ereignisse mehr als fünfzehn Jahre zurückliegen, wohl als überaus gering bewertet werden.«
»Oder?«
»Oder«, fuhr der königliche Berater mit der Gelassenheit eines Mannes fort, der schon viele Schlachten vor den Schranken des Gerichts geschlagen und nicht wenige davon siegreich für sich entschieden hatte, »wir plädieren auf Unzurechnungsfähigkeit. Das würde meinem Mandanten den Henkertod und wohl auch eine lebenslange Haft in Newgate ersparen und ihn stattdessen direkt nach Bedlam führen …«
Während Fox angesichts dieser Argumentation nur bedächtig nickte, liefen Sarah eisige Schauer über den Rücken.
»Bedlam« war die geläufige Abkürzung für das Hospital St. Mary of Bethlehem – eine geschlossene Anstalt zur Verwahrung geisteskranker Menschen. Dort einzusitzen mochte immerhin noch besser sein, als am Galgen zu enden oder im berüchtigten Gefängnis Newgate ein karges, von der Welt vergessenes Dasein zu fristen. Was jedoch über die Anstalt und die dort angewandten Methoden erzählt wurde, war grässlich genug. Schaudernd dachte Sarah an ihren Besuch der in der Nähe von Paris gelegenen Clinique St. James zurück, den sie einst zusammen mit Maurice du Gard getätigt hatte, vor, so schien es ihr zumindest, unendlich langer Zeit. Schon diese Einrichtung war in Sarahs Augen an Düsternis und Tristesse kaum zu überbieten gewesen – und dabei wurde sie in der medizinischen Fachwelt als eine der modernsten und fortschrittlichsten Anstalten Europas gerühmt.
Wie man es drehen und wenden mochte – die Aussichten, die sich Kamal boten, waren alles andere als rosig. Die Idylle, die sie während ihres Aufenthalts in Yorkshire genossen hatten, war brutal zerstört worden, der Traum von erfüllter Liebe, dem sie sich bereitwillig hingegeben hatten, hatte sich als Lüge erwiesen.
Dennoch war Sarah nicht gewillt aufzugeben.
Sie hatte hilflos mit ansehen müssen, wie ihr zwei Menschen, die sie über alles geliebt hatte, entrissen worden waren – noch einmal wollte und würde sie dies nicht ertragen.
Sie würde kämpfen.
Mit allen Mitteln.
5.
P ERSÖNLICHES T AGEBUCH S ARAH K INCAID
Milton Fox hat Recht behalten. Aufgrund der eindeutigen Sachlage hat die Staatsanwaltschaft in Kamals Fall zur Eile gedrängt und dafür gesorgt, dass der Gerichtstermin bereits für Donnerstag nächster Woche angesetzt wurde.
Der Vergleich mit einem verängstigten Tier drängt sich mir auf; instinktiv spüre ich, dass ein Sturm bevorsteht, doch weder kann ich die Vorgänge begreifen noch etwas dagegen unternehmen. Ein Gefühl tiefer Machtlosigkeit erfüllt mich, dem ich entgegenzuwirken versuche, indem ich Sir Jeffrey meine Hilfe angeboten habe. Da ich mich in Rechtsdingen jedoch nicht auskenne, bin ich ihm wohl nur eine Last. Tag und Nacht brütet er über seinem Eröffnungsplädoyer, von dem wohl alles abhängen wird; gelingt es ihm nicht, vom Beginn der Verhandlung an Zweifel in die Herzen der Richter zu streuen, so ist Kamals Schicksal besiegelt.
Aussichten, dass mein Geliebter schadlos aus dieser Sache hervorgehen könnte, bestehen so gut wie keine; in der Sache selbst ist er geständig es geht lediglich darum, das Tatmotiv zu beleuchten, das letztlich für das Strafmaß entscheidend sein wird. Die Staatsanwaltschaft wird behaupten, dass Kamal aus Habgier und anderen niederen Motiven heraus gehandelt hätte, während Sir Jeffrey die Vorgeschichte des Mordes zur Sprache bringen wird. Da die Gerichtsverhandlung damals mit einem Freispruch der späteren Opfer endete, sind die Chancen auf Erfolg auch hier verschwindend gering.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto größer wird meine Verzweiflung. In Gedanken sehne ich mich zurück nach Kincaid Manor und den glücklichen, sorglosen Tagen, die wir dort verlebten – wissend, dass diese unwiderruflich vorüber sind. Die Frage, wem wir diese ungünstige Wendung des Schicksals zu verdanken haben, lässt mich nicht los, aber meine Versuche, mehr über den Urheber jenes anonymen Schreibens herauszufinden, das Scotland Yard auf Kamals Spur gebracht hat, verlaufen im Sand. Die einzige Hoffnung scheint mir darin zu bestehen, Kamal selbst zu befragen – obgleich mir klar ist, dass mein Geliebter alles andere als gewillt sein wird, mit mir zu sprechen. Denn noch immer hält er, zu meiner größten Betrübnis, keine andere als mich für die Urheberin seines Unglücks …
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