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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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UCHTHAUS VON N EWGATE , L ONDON
25. S EPTEMBER 1884
    Sarahs Magen verkrampfte sich, als sich das eiserne Tor vor ihr öffnete. Es war nicht wirklich üblich, dass einer Zivilperson – noch dazu einer Frau – Zutritt zu den düsteren Gemäuern Newgates gewährt wurde. Milton Fox hatte – wohl aus schlechtem Gewissen – eine Ausnahmegenehmigung erwirkt.
    Mit heiserem Krächzen schwangen die Torflügel auf, und Sarah durfte eintreten. In Begleitung eines Zuchthauswärters, dessen Uniform verschmutzt und abgetragen war, durchquerte sie den trostlosen, von hohen Mauern umgebenen Innenhof, und betrat das eigentliche Gefängnis – einen trutzigen Bau, dessen weiß gekalkte Fassade mit dem morgendlichen Nebel zu verschmelzen schien. Der Gestank, der ihr entgegenschlug, war betäubend, eine Mischung aus Fäulnis, Schweiß und Exkrementen. Gaslaternen erhellten den fensterlosen Korridor, niemand schien Geld dafür ausgeben zu wollen, das triste Dasein der Häftlinge mit Elektrizität zu erhellen.
    »Hier entlang.« Die Stimme des Wärters verriet keine Regung, ebenso wenig wie seine groben, wie in Stein gemeißelten Züge und sein stumpfer Blick. Das schaurige Elend in seiner Umgebung schien er nicht mehr bewusst wahrzunehmen.
    Anders die Besucherin.
    Sarah schauderte beim Anblick der dunklen, engen Korridore, auf die die grau gestrichenen, mit jeweils einem kleinen Fenster versehenen Eisentüren der Gefängniszellen mündeten. Die Insassen, auf die Sarah im Vorbeigehen einen Blick erhaschte, sahen teils so blass und abgemagert aus, dass sie mehr tot als lebendig erschienen. Wurde einer von ihnen jedoch des ungewohnten Besuches gewahr, so blitzte es begehrlich in seinen Augen, und nicht selten wurden faulige Zähne zu einem lüsternen Grinsen gebleckt. Sofern es dabei blieb, zeigte der Wärter keine Reaktion – als einer der Zuchthäusler sich jedoch dazu verleiten ließ, an seine Zellentür zu hämmern und Sarah auf unflätige Weise anzusprechen, zückte der Wärter seinen hölzernen Knüppel und stieß ihn mit brutaler Gewalt in die Türöffnung. »Halt die Schnauze, Creed«, maulte er dazu, »oder willste zwei Tage ins Loch?«
    »Nein, Sir«, drang es flehend zurück. »Bitte nicht ins Rattenloch! Bitte nicht!«
    Ein Grinsen huschte über die verhärmten Züge des Wärters, in dem sich Gefallen an der eigenen Allmacht spiegelte und das Sarah ganz und gar nicht gefiel. Aber sie sah sich weder in der Position noch in der Stimmung, den Mann dafür zurechtzuweisen – der Gedanke allerdings, dass auch ihr Kamal so grob behandelt wurde, sorgte dafür, dass sich ihr Innerstes nur noch mehr verkrampfte.
    »Ist es noch weit?«, erkundigte sie sich. Trotz der klammen Feuchtigkeit, die im Gefängnis herrschte, war ihr Schweiß auf die Stirn getreten. Angstschweiß, wie sie verblüfft feststellte …
    Der Wärter brummte etwas Unverständliches. An der Kreuzung zweier Korridore gelangten sie zu einem Wachraum, in dem zwei weitere Uniformierte ihren Dienst versahen. Von dort aus folgten sie dem schmaleren Gang bis zu dessen Ende.
    »Dort«, sagte der Wärter nur und deutete auf die Zellentür, die ganz am Ende des Korridors lag und vom Licht der Gaslaternen kaum noch erfasst wurde. Sarah bedankte sich mit einem Nicken (zu mehr war sie kaum in der Lage), dann trat sie zögernd auf die Zelle zu. Dass in den Öffnungen der umliegenden Türen lüstern leuchtende Augenpaare erschienen, nahm sie kaum zur Kenntnis.
    »Kamal …?«
    Bestürzt über den dumpfen, krächzenden Klang, den ihre Stimme angenommen hatte, biss sich Sarah auf die Lippen. Schweigend legte sie den Rest des Weges zurück, bis sie unmittelbar vor der Zellentür stand und durch das winzige Fenster blicken konnte.
    Was sie sah, verstörte sie zutiefst.
    Ein Raum, der gerade fünf Fuß im Quadrat messen mochte; eine Pritsche aus hartem Holz, die als Schlafstatt diente und gegen die Wand geklappt war; ein Loch im Boden, über dem der Gefangene seine Notduft verrichten sollte und das rings von Erbrochenem gesäumt war; und schließlich eine elend aussehende, abgerissene Gestalt, die das schmutzig weiße Gewand eines Zuchthäuslers trug und mit angezogenen Beinen auf dem Boden kauerte, das Gesicht zwischen die Knie gebettet.
    »Kamal?«
    Als er ihre Stimme hörte, hob er den Kopf und blickte auf, worauf sie abermals erschrak. Kamals Schädel war kahl geschoren – eine Vorsichtsmaßnahme, die man zum Schutz vor Läusen und anderem Ungeziefer bei allen Neuzugängen

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