Am Ufer Des Styx
nicht mehr zu hören. Sarahs Atem beruhigte sich, Stille kehrte ein – und erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie allein war.
»Friedrich …?«
Sie wagte nur zu flüstern, aus Furcht, die Aufmerksamkeit eines Scharfschützen oder eines geflüchteten Türken auf sich zu ziehen. Eine Antwort erhielt sie nicht.
»Friedrich? Bist du da?«, versuchte sie es noch einmal, mit demselben niederschmetternden Ergebnis.
Sarah war frei, aber sie hatte den Kontakt zu ihren Gefährten verloren. Trotz der Schweißperlen, die sich auf ihrer Stirn gebildet hatten, begann sie erbärmlich zu frieren.
Was sollte sie tun?
Zurückgehen und Hingis suchen und dabei womöglich dem Feind in die Arme laufen? In der Dunkelheit bestand wohl kaum Aussicht, die Spur der anderen zu finden. Auch wenn es Sarah schwer fiel – das Vernünftigste schien es zu sein, an Ort und Stelle zu bleiben und zu warten, bis die anderen sie entweder fanden, oder der Tag anbrach.
Die Jacke eng um die Schultern gezogen, sank sie am Fuß einer großen Kastanie nieder und bedeckte sich mit niedergefallenem Laub, um sich vor der Kälte der Nacht zu schützen.
So blieb sie sitzen.
Und wartete.
Wartete.
Wartete …
5.
R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
Ich bin allein.
Seit unserer dramatischen Flucht aus der Gefangenschaft der türkischen Soldaten habe ich den Kontakt zu Friedrich und den anderen verloren. Umzukehren und nach ihnen zu suchen, wäre in der Dunkelheit wenig sinnvoll gewesen und zudem höchst gefährlich, also entschied ich mich zu bleiben.
Von Laub bedeckt, eng zusammengekauert und dennoch erbärmlich frierend durchlebe ich die längste Nacht meines Lebens. Mein Tagebuch, das ich bei mir trug, ist mir mein einziger Trost und Gefährte, auch wenn meine klammen Hände die Kohle kaum zu führen vermögen. Ihm vertraue ich meine Ängste und Nöte an, während ich den Morgen herbeisehne und den Beginn des neuen Tages, um mich auf die Suche nach meinen Gefährten zu machen …
E NGEN DES A CHERON
5. N OVEMBER 1884
Das Rauschen des Flusses zu ihrer Linken war wieder zu hören, was bedeuten musste, dass sie sich erneut in der Nähe der Lichtung befand, auf der die Expedition ihr Lager aufgeschlagen hatte.
Beim ersten Licht des Tages war Sarah aufgebrochen, hatte sich unter den Schichten von Laub hervorgeschält, die sie über sich gebreitet hatte. Sie fror erbärmlich und zitterte am ganzen Körper, aber sie hatte überlebt, nicht nur die Gefangenschaft und den Überfall, sondern auch die Kälte der Nacht.
Ein Stück voraus schien sich der Wald zu lichten. Sarah spürte, wie sich ihr Pulsschlag erwartungsvoll steigerte, und sie beschleunigte ihren Schritt. Was würde sie vorfinden? Waren ihre Gefährten noch am Leben? Waren sie ebenfalls zum Lager zurückgekehrt?
Sarah konnte es nur hoffen …
Das welke Laub knirschte unter ihren Füßen, während sie die letzten Schritte zurücklegte, die sie noch von der Lichtung trennten. Schon Augenblicke später stand sie auf der freien Fläche, die ihre Gefährten und sie am Abend zuvor zu ihrem Lagerplatz erkoren hatten – und die ein Bild des Grauens bot.
Eines der Zelte hatte Feuer gefangen und war abgebrannt, bei den übrigen waren die Planen aufgeschlitzt worden und flatterten im kalten Morgenwind. Das Dreibein, das über dem Feuer gestanden hatte, war umgestürzt, der Kessel lag ausgeschüttet daneben. Trümmer der Holzkisten, in denen das Gepäck der Expedition verstaut gewesen war, waren überall verstreut, die Reagenzgläser und die Fläschchen mit den chemischen Substanzen lagen in Scherben. Was den Räubern brauchbar erschienen war, das hatten sie mitgenommen, den Rest mutwillig zerstört oder einfach zurückgelassen. Im von Stiefeltritten zerstampften Morast erblickte Sarah eines ihrer Mieder, ein geradezu bizarrer Anblick. Von den Büchern und Landkarten, die sie dabeigehabt hatte, waren nur noch Fetzen übrig, die der Wind über die Lichtung trieb.
Der materielle Verlust und die Ignoranz der Räuber ärgerten Sarah lediglich – was sie erschütterte und ihren leeren Magen rebellieren ließ, waren die leblosen Körper, die auf der Lichtung verstreut lagen und die teils entsetzlich zugerichtet waren.
Die meisten der Leichen waren türkische Soldaten, die man tatsächlich bis auf den letzten Mann niedergemetzelt hatte. Man hatte sie ihrer Waffen und teils auch ihrer Kleider und Stiefel beraubt, sodass einige von ihnen halbnackt waren. An einigen hatten die Räuber zusätzlichen
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