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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Mesopotamos, unweit dessen man die Überreste der antiken Stadt Ephyra vermutet. Das Totenorakel zu suchen und zu finden muss unser Ziel sein -vielleicht wird es uns die Antworten geben, nach denen wir bislang vergeblich suchten …
    S EE VON A CHEROUSIA
7. N OVEMBER 1884
    Es war am frühen Morgen, als der Kiel des Kahns das westliche Ufer des Sees erreichte und knirschend auf Grund lief.
    Beim ersten Licht des Tages hatten Sarah und Perikles das Boot bestiegen und die weite Wasserfläche überquert, die sich inmitten der Ebene erstreckte und wie ein schimmernder Spiegel anmutete. Das Grau der Wolken und das kalte Blau des Himmels reflektierten sich darin, umrahmt vom fleckigen Rotbraun der Bäume und dem fernen Weiß der Berge. Dunst lag über dem Wasser, der in milchigen Fetzen landeinwärts kroch und sich als unheimlicher Schleier über das Ufer legte. Dazu war es geradezu gespenstisch still, nicht einmal das Kreischen von Vögeln war zu hören. Genauso, dachte Sarah, hatte sie sich den Eingang zum Hades immer vorgestellt …
    Sie erinnerte sich gut an die Geschichten, die ihr Vater ihr erzählt hatte, als sie noch ein junges Mädchen gewesen war: Sagen von großen Helden, die den Schrecken der Unterwelt getrotzt hatten, um ihre Liebsten zu befreien oder die Schatten des Jenseits um Rat zu bitten. Sarah vermochte nicht zu sagen, warum diese Geschichten von jeher einen besonderen Reiz auf sie ausgeübt hatten. Irgendetwas daran schlug sie auf geheimnisvolle Weise in Bann.
    Ein unüberschaubares, von Gras und Gebüsch überwuchertes Trümmerfeld breitete sich ein Stück landeinwärts aus: die Überreste einer antiken Siedlung. Nur noch vereinzelt ruhte ein Stein auf dem anderen; hier erhoben sich die kläglichen Reste einer einstmals stolzen Mauer, dort ragte ein viereckiger Turm mit klobigen Zinnen auf, der im Mittelalter verstärkt worden war und als Wachturm gedient haben mochte. Ansonsten waren von der einstmals ansehnlichen Siedlung nur noch verwitterte, wild durcheinander liegende Steinquader und -säulen übrig.
    Das also, dachte Sarah, sind die Ruinen von Ephyra.
    In antiker Zeit, so hatte sie gelesen, hatte die Stadt noch unmittelbar am Ufer gelegen. Zunehmende Verlandung hatte dafür gesorgt, dass der See kleiner und kleiner geworden war. Irgendwann würde es ihn vermutlich überhaupt nicht mehr geben. Unter den Stadtstaaten des alten Griechenland war Ephyra keiner der großen und bedeutenden gewesen. Was die Siedlung in der gesamten hellenischen Welt bekannt gemacht hatte, war das Totenorakel, das ebenso wie die Stadt angeblich von einem Baumeister namens Phidippos errichtet worden war. Von jenem wiederum wurde behauptet, dass er ein Nachkomme des großen Herakles gewesen sei, jenes antiken Helden, der der Sage nach mit Wasser aus dem Fluss Acheron vergiftet worden war.
    Derlei scheinbare Zufälle waren es, die Sarahs Interesse erregt und sie zu dem Entschluss veranlasst hatten, in der realen Welt zu suchen, was andere nur für eine Sage hielten …
    »Und Sie sind sicher, dies richtiger Ort?«, erkundigte sich Perikles wenig überzeugt. Das Boot hatten sie am Ufer zurückgelassen und wanderten nun den Hügel hinauf, an dessen Fuß sich die antike Siedlung einst befunden hatte. Die Stimme des Führers hörte sich dumpf und seltsam an im Nebel, und ihm war anzusehen, dass ihm die Örtlichkeit nicht behagte.
    »Ich denke, ja.« Sarah nickte. »Wenn du allerdings lieber umkehren möchtest …«
    »Ochí.« Er schüttelte entschieden den Kopf und packte das Seil fester, das sie zusammen mit dem Boot erworben hatten und das er über der Schulter trug. »Ich bleibe.«
    »Wie du willst.« Sarah nickte ihm zu.
    »Wo das Orakel der Toten einst gewesen?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Sie nicht wissen?« Überrascht blieb der Führer stehen.
    »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ausgrabungen sind hier noch nie zuvor angestrengt worden.«
    »Aber dann nicht wissen, wo suchen!« Er machte eine Handbewegung, die das gesamte, dicht bewachsene und unübersichtliche Gelände einschloss, ein wahrer Irrgarten aus umgestürzten und zerbrochenen Trümmern. »Suche kann ewig dauern.«
    »Ich denke nicht«, widersprach Sarah.
    »Aber wenn keinen Hinweis haben …«
    »Es gibt durchaus Hinweise, allerdings nicht von den Forschern unserer Tage, sondern von den antiken Geographen, von den Werken eines Erathosthenes, eines Hipparch oder Posidonios über jene eines Klaudios Ptolemaios oder Marinos von Tyros bis hin zu den

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