Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen
1
Die Stimme am Telefon war ein Flüstern. Sie hatte etwas Eindringliches, fast Verzweifeltes.
Henry Pierce sagte dem Anrufer, er habe sich verwählt. Aber die Stimme wurde penetrant.
»Wo ist Lilly?«, fragte der Mann.
»Das weiß ich nicht«, sagte Pierce. »Ich weiß nichts über sie.«
»Das ist ihre Nummer. Sie steht in der Website.«
»Nein, Sie haben eine falsche Nummer gewählt. Hier gibt es keine Lilly. Und von einer Website weiß ich auch nichts. Okay?«
Ohne zu antworten, hängte der Anrufer ein. Dann legte Pierce auf, verärgert. Er hatte das neue Telefon erst fünfzehn Minuten zuvor eingesteckt und schon zwei Anrufe für eine Lilly erhalten.
Er stellte das Telefon auf den Boden und sah sich in der fast leeren Wohnung um. Alles, was er hatte, waren die schwarze Ledercouch, auf der er saß, die sechs Schachteln mit Kleidern im Schlafzimmer und das neue Telefon. Und jetzt gab es mit dem Telefon Ärger.
Nicole hatte alles behalten – die Möbel, die Bücher, die CDs und das Haus am Amalfi Drive. Eigentlich hatte sie es nicht behalten; er hatte ihr alles gegeben. Der Preis für seine Schuld, es so weit kommen zu lassen. Die neue Wohnung war schön, in puncto Komfort und Sicherheit top, eine erstklassige Adresse in Santa Monica. Aber das Haus am Amalfi Drive – und die Frau, die noch darin wohnte – würde ihm fehlen.
Er sah auf das Telefon auf dem beigefarbenen Teppichboden hinab und überlegte, ob er Nicole anrufen und ihr sagen sollte, dass er vom Hotel in die Wohnung gezogen war und eine neue Nummer hatte. Doch dann schüttelte er den Kopf. Er hatte ihr bereits eine E-Mail mit allen neuen Informationen geschickt. Sie anzurufen wäre ein Verstoß gegen die von ihr aufgestellten Regeln, und er hatte an ihrem letzten gemeinsamen Abend versprochen, sich an sie zu halten.
Das Telefon klingelte. Er bückte sich, und diesmal sah er auf die Rufnummernanzeige. Der Anruf kam wieder aus dem Casa Del Mar. Es war derselbe Typ. Pierce überlegte, ob er ihn zur Mailbox durchläuten lassen sollte, die zu dem neuen Anschluss gehörte, aber dann nahm er doch ab und drückte auf die Gesprächstaste.
»Hören Sie, Mann, ich weiß nicht, was Ihr Problem ist. Sie haben eine falsche Nummer. Hier gibt es niemand, der …«
Der Anrufer legte auf, ohne ein Wort zu sagen.
Pierce griff zu seinem Rucksack hinüber und holte den Notizblock heraus, auf den seine Assistentin die Bedienungsanweisungen für die Mailbox geschrieben hatte. Monica Purl hatte das neue Telefon für ihn bestellt, weil er im Labor die ganze Woche lang zu sehr damit beschäftigt gewesen war, die Präsentation für nächste Woche vorzubereiten. Und weil das etwas war, wofür es Assistentinnen gab.
Im schwindenden Licht des Tages versuchte er, die Anweisungen zu lesen. Die Sonne war gerade im Pazifik untergegangen, und er hatte für das Wohnzimmer der neuen Wohnung noch keine Lampen. Die meisten neuen Wohnungen hatten in die Decke eingelassene Leuchten. Diese nicht. Die Wohnungen waren frisch renoviert, mit neuen Küchen und Fenstern, aber das Gebäude selbst war alt. Und Plattendecken, unter denen keine Leitungen verlegt waren, ließen sich nicht kostengünstig renovieren. Daran hatte Pierce nicht gedacht, als er die Wohnung gemietet hatte. Tatsache war jedenfalls, er brauchte Lampen.
Rasch las er die Anweisungen für die Anruferidentifizierung und das Anruferverzeichnis. Er stellte fest, dass Monica ein so genanntes Allround-Paket für ihn bestellt hatte – Anruferidentifizierung, Anruferverzeichnis, Anklopfen, Anrufweiterleitung, Anruf dies, Anruf das. Außerdem hatte sie auf dem Zettel vermerkt, dass sie den Leuten in seinem VIP-Adressenverzeichnis die neue Nummer bereits gemailt hatte. Auf dieser Liste standen fast achtzig Personen. Leute, für die er jederzeit erreichbar sein wollte, fast ausnahmslos Geschäftspartner oder Geschäftspartner, die er auch als Freunde betrachtete.
Pierce drückte wieder auf die Gesprächstaste und wählte die Nummer, die ihm Monica zur Einrichtung und Abfrage seiner Mailbox aufgeschrieben hatte. Danach befolgte er die Anweisungen einer elektronischen Stimme, um eine Zugangscodenummer einzugeben. Er entschied sich für 21902 – den Tag, an dem ihm Nicole gesagt hatte, ihre dreijährige Beziehung sei zu Ende.
Er verzichtete darauf, eine persönliche Begrüßung auf Band zu sprechen, sondern beschloss, sich hinter der körperlosen elektronischen Stimme zu verstecken, die die Nummer ansagte und den
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