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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Frevel begangen und ihnen die Ohren oder einzelne Finger abgeschnitten, als grausige Trophäen. Sarah sah den Sergeanten. Er lag auf dem Rücken im Gras, statt seiner Augen klafften nur zwei dunkle Höhlen in seinem Gesicht. Obwohl Sarah keinen Grund hatte, mit ihrem Peiniger Mitleid zu empfinden, verkrampfte sich alles in ihr vor Abscheu. Wahrscheinlich, vermutete sie, waren die Vermummten griechische Freischärler gewesen. Anders ließ sich solch maßloser Hass, der selbst vor Leichenschändung nicht zurückschreckte, in ihren Augen nicht erklären.
    Wie in Trance wankte sie durch den Morast, der sich an vielen Stellen dunkelrot verfärbt hatte. Auch einige Klephten waren unter den Toten, von denen Sarah insgesamt fast zwei Dutzend zählte, und am Fuß einer kahlen Ulme entdeckte sie den leblosen Körper von Alexis. Der Koch hatte die Augen geschlossen, als würde er schlafen, aber seine blutdurchtränkte Tunika sagte etwas anderes.
    Sarah eilte zu ihm, Tränen in den Augen. »Ich wollte das nicht«, flüsterte sie, »das wollte ich ganz sicher nicht …«
    Ein Rascheln im nahen Wald ließ sie aufhorchen.
    Aufgeschreckt fuhr sie hoch und lauschte. Zwar vernahm sie kein weiteres Geräusch, jedoch hatte sie keine Lust, erneut in Gefangenschaft zu geraten. Sich argwöhnisch umblickend huschte sie zurück ins Unterholz, während ihre Hand reflexhaft zum Holster griff. Dort fasste sie natürlich nichts als leere Luft, denn sowohl der Revolver als auch das Bowie-Messer waren ihr von den Türken abgenommen worden und befanden sich inzwischen wohl längst im Besitz der Widerstandskämpfer.
    Vorsichtig zog sich Sarah Schritt für Schritt zurück – und wurde plötzlich von hinten gepackt. Der Schrei, der ihr entfleuchen wollte, endete in der groben Hand, die sich ihr auf den Mund presste, und Sarah tat das Einzige, was ihr in ihrer Not einfiel: Mit aller Kraft stieß sie den Ellbogen zurück und landete tatsächlich einen Treffer. Ein Keuchen war zu hören, und der Griff um ihren Mund lockerte sich, worauf Sarah ausholte und mit aller Macht nach hinten trat. Ein dumpfer Aufprall war zu hören, das Knacken von Zweigen und das Rascheln von Laub, begleitet von einem erbärmlichen Winseln. Sarah fuhr herum – und sah zu ihrer Verblüffung Perikles am Boden liegen, beide Hände auf seine Leibesmitte pressend und sich krümmend vor Schmerz.
    »Grundgütiger!«
    Sie bückte sich und half dem Führer auf die Beine, der noch immer Mühe hatte, sich aufrecht zu halten. Erst nach einigen Augenblicken und nachdem Sarah ungefähr ein Dutzend Mal ihr größtes Bedauern zum Ausdruck gebracht hatte, fasste er wieder Atem.
    »Verzeih«, sagte sie noch einmal, »das wollte ich nicht.«
    »Weiß«, drang es zähneknirschend zurück. »Mein Fehler … Wollte Sie nur hindern schreien … getötete Soldaten vermisst … bald noch mehr von ihnen kommen … wir verschwinden.«
    »Ich verstehe«, sagte Sarah und deutete auf die Lichtung. »Sind das Klephten gewesen?«
    »Wer weiß?« Er zuckte mit den Schultern. »Krieg hat viele Kinder. Gesagt, dass nie zwischen Fronten kommen, sonst thánatos …«
    Sarah erinnerte sich an Perikles’ Worte – nun war ihr klar, was er damit gemeint hatte. Ein Konflikt wie dieser war mit dem Kampf gegen die Hydra vergleichbar, jenem vielköpfigen Untier der griechischen Mythologie, dem für jedes abgeschlagene Haupt zwei neue wuchsen: Je brutaler die Türken versuchten, die Unabhängigkeitsbestrebungen der griechischen Provinzen zu unterdrücken, desto erbitterter wurde der Widerstand. Und je größere Erfolge der Widerstand erzielte, desto maßloser wurde er in seinen Zielen. Die Folge war grausame Eskalation, Barbarei auf beiden Seiten …
    »Wo ist Hingis?«, erkundigte sie sich.
    Perikles zuckte mit den Schultern. »Vielleicht tot, vielleicht noch am Leben. Weiß nicht.«
    Sarah nickte betroffen, während sie gleichzeitig überlegte, was zu tun war. Sollte sie sich auf die Suche nach ihrem Begleiter begeben? Möglicherweise lag er irgendwo verwundet und brauchte ihre Hilfe. Andererseits würde sie dadurch noch mehr wertvolle Zeit verlieren – Zeit, die Kamal nicht mehr hatte …
    »Wir werden uns aufteilen«, entschied sie. »Du wirst dich auf die Suche nach Hingis und den Treibern machen, ich werde weiter flussabwärts ziehen.«
    »Ochi«, lehnte er kategorisch ab und schüttelte den Kopf.
    »Nein? Warum nicht?«
    »Weil Treiber längst über alle Berge und Ihr Freund vielleicht schon tot. Sie hingegen

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