Am Ufer Des Styx
leben – und ich sorgen, dass so bleiben.«
»Das ist gut gemeint von dir«, versicherte Sarah, »aber ich kann ganz gut auf mich auf …«
»Arketá!«, schnaubte er – und es klang so endgültig, dass Sarah nicht zu widersprechen wagte. Ohnehin war alles anders gekommen, als sie es geplant hatte. Die Expedition war aufgerieben, drei ihrer Bediensteten hatten den Tod gefunden, und ob Hingis noch am Leben war, war zumindest fraglich. Vielleicht war es besser, auf Perikles zu hören …
»Einverstanden«, sagte sie deshalb. »Aber sobald wir fündig geworden sind, wirst du umkehren und Hingis suchen.«
»Endáxei«, entgegnete er achselzuckend. »Packen zusammen, was noch können brauchen. Dann rasch gehen.«
Sarah nickte, und gemeinsam kehrten sie zum Ort des Grauens zurück. Von den Pferden und den Maultieren fehlte jede Spur – auf sie hatten die Räuber es vor allem abgesehen. Unter dem, was zurückgeblieben war, befand sich kaum noch etwas, das von Nutzen gewesen wäre. Immerhin trieb Sarah einen Kompass, einige Blatt unbeschriebenes Papier und Zeichenkohle sowie einige Packungen Streichhölzer auf, die allen Widerständen zum Trotz trocken geblieben waren. Die Karten und Bücher, die sich in ihrem Gepäck befunden hatten, waren allesamt nicht mehr zu gebrauchen, auch vom Proviant war nichts übrig. In einem der Dörfer, die den unteren Flusslauf säumten, würden sie sich versorgen müssen.
Schon wollten sie die Lichtung verlassen, als Sarah etwas einfiel und sie noch einmal umkehrte. Unweit der Stelle, wo sie gefangen gehalten worden waren, fand sie den Leichnam des Hauptmanns. Das Messer war aus seiner Brust gezogen und entfernt worden, eine blutige Wunde klaffte an der Stelle. Sarah kniete nieder und durchsuchte die Taschen des blutdurchtränkten Uniformmantels. Es dauerte nicht lange, bis sie fündig wurde. Erleichtert seufzend zog sie die goldene Kette hervor, an der die Taschenuhr von Gardiner Kincaid hing.
Mit einem grimmigen Grinsen wollte sie das Erbstück einstecken und sich davonmachen, als ihr auffiel, dass die Uhr stehen geblieben war, just zu der Zeit, als das Lager überfallen worden war. Ihr Verstand sagte ihr, dass es vermutlich der harte Aufprall auf dem Boden gewesen war, der das Uhrwerk beschädigt hatte -ihrem Herzen jedoch kam es so vor, als weigerte sich die Uhr, ihr weiter treue Dienste zu leisten. Ihr fiel ein, dass der Hauptmann sie zunächst zwar beraubt, sie später aber auch vor der Zudringlichkeit des Sergeanten bewahrt hatte. In einem jähen Entschluss trennte sie den Chronometer von der Kette, die ihr als Tauschobjekt vielleicht noch nützlich sein konnte, und schob ihn in die Manteltasche des Offiziers zurück.
»Danke«, flüsterte sie.
Dann erhob sie sich und folgte Perikles ins dichte Unterholz, dem Rauschen des Flusses hinterher.
6.
R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
Wir folgen dem Lauf des Acheron. Jenseits der tiefen Klüfte am Fuß des Tomaros verbreitert sich der Fluss und strebt nun ruhigeren Gefilden entgegen – und mit ihnen jenem Abschnitt, der als die »Quellen des Acheron« bezeichnet wird. Zwar wird dort der antiken Überlieferung zufolge kein Zugang zur Unterwelt vermutet, jedoch soll das Wasser, das dort unterirdischen Zuflüssen entspringt, direkt aus dem Hades stammen und von entsprechend eigenartiger Beschaffenheit sein.
Was gäbe ich dafür, noch mein Miniaturlabor zur Verfügung zu haben, mit dessen Hilfe ich derlei Aussagen leicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen könnte! Da mir diese Möglichkeit jedoch genommen ist, bleibt uns nichts, als dem Flusslauf weiter zu folgen und dabei die Augen nach allem offen zu halten, was uns in irgendeiner Weise auffällig erscheint. Uns in südwestlicher Richtung fortbewegend, nähern wir uns damit der Ebene, die sich bis zum Meer erstreckt und in der der See von Acherousia liegt …
6.N OVEMBER
In Ermangelung unserer Pferde haben wir aus der Not eine Tugend gemacht und von einem der Fischer, die den unteren Flusslauf bewohnen, ein Boot erworben: einen altertümlichen, morschen Kahn, der wohl kaum dazu angetan wäre, seine Besatzung aufs hohe Meer zu tragen, uns hier jedoch zuverlässige Dienste leistet.
Getragen von der Strömung des Flusses kommen wir rasch voran. Schon kann ich in der Ferne zwischen den roten und orangefarbenen Baumkronen die blaue Spiegelfläche des Sees erkennen, den wir noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen werden. An seinem westlichen Ende befindet sich das Dorf
Weitere Kostenlose Bücher