Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
›Geographica‹ Strabons.«
    »Sie alle diese Bücher gelesen?«, staunte Perikles.
    »Die wenigsten davon – einige sind nicht mehr erhalten.«
    »Giatí?«, fragte der Makedone. »Warum?«
    »Weil es Mächte gibt, die alles darangesetzt haben, zu verhindern, dass jenes Wissen die Zeit überdauert.«
    »Wie dann davon wissen?«
    »Aus Übersetzungen und Zusammenfassungen«, erklärte Sarah, während sie weiter hinaufstiegen. »In Prag, wo ich recherchierte, fand ich mittelalterliche Handschriften, die Auszüge der genannten Werke enthielten, darunter auch einige Angaben über Ephyra. Sie waren nicht sehr ergiebig, aber einige Hinweise fand ich doch.«
    »Nämlich?«
    »Zum einen brachte ich in Erfahrung, dass sich der Eingang des Totenorakels einst auf einer Insel befand, die sich rund eine Drittelmeile östlich der Stadt befand.«
    »Eine Insel?« Perikles schaute sie zweifelnd an. »Warum wir dann gehen an Land?«
    »Weil der See damals noch sehr viel größer gewesen ist als heute«, erwiderte Sarah schlicht. »Was damals eine Insel war, ist heute nur noch ein Hügel.«
    »Verstehen.« Der Makedone nickte. »Aber gibt viele Hügel …«
    »Zum anderen«, fuhr Sarah fort, »muss man wissen, dass das Christentum in seiner Frühzeit oftmals an alte heidnische Gebräuche anknüpfte, indem es die Daten von Festtagen übernahm oder Kirchen an den Stätten alter Heiligtümer errichtete.«
    »Und?«, fragte der Führer.
    »Sieh«, sagte Sarah und deutete zur Hügelkuppe, die sie fast erklommen hatten. Perikles stieß einen leisen Pfiff aus, als er die Überreste einer im byzantinischen Stil errichteten Kirche erblickte.
    »Sie meinen …?«, fragte er mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen.
    »Genau das«, entgegnete Sarah nur, während sie sich der Kirche näherte. Der Vorraum, der – wie bei byzantinischen Gotteshäusern üblich – gen Westen blickte, war eingebrochen, der Altarraum mit der achteckigen Kuppel darüber schien jedoch weitgehend erhalten. Die Mauerreste, die sich ringsum erstreckten, ließen darauf schließen, dass es sich bei der Kirche einst um das katholikón eines Klosters gehandelt hatte, das vor tausend oder noch mehr Jahren an dieser Stelle erbaut worden war.
    Schon während der Überfahrt hatte Sarah den charakteristischen Kuppelbau bemerkt. Es war ihr seltsam vorgekommen, dass sich ausgerechnet hier Mönche niedergelassen hatten, deshalb hatte sie ihre Schritte zuerst hierher gelenkt. Ob sie mit ihrer Vermutung richtig lag, würde sich erst noch herausstellen müssen.
    Mit einem Wink bedeutete sie Perikles, zurückzubleiben, während sie selbst auf den zerstörten Narthex 6 zutrat und ihn durchquerte. Es kam einem Wunder gleich, dass die Kirche überhaupt noch Türen hatte, auch wenn sie morsch und brüchig waren und schräg in den Angeln hingen. Es gelang Sarah, eine von ihnen so weit aufzustemmen, dass sie hineinzuschlüpfen vermochte. Im nächsten Augenblick fand sie sich im schummrigen Inneren der Kirche wieder, das selbst nach all der Zeit noch Ehrfurcht gebietend war.
    Vollkommene Stille herrschte innerhalb der einstmals geweihten Mauern. Das Allerheiligste war schon vor langer Zeit an einen anderen Ort überführt worden, die Kerzen längst verloschen. Die Fresken an den hohen Wänden und der von vier Säulen getragenen Decke waren weitgehend zerstört, sodass kaum noch etwas zu erkennen war. Beleuchtet wurde die Kirche nur von fahlen Lichtschäften, die durch die kreisrunden Fensteröffnungen fielen und schräg durch das Halbdunkel stachen. Dennoch war Sarah überwältigt von der Würde und Majestät des Ortes. In einer respektvollen Geste bekreuzigte sie sich – und hatte plötzlich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein.
    »Wer ist da …?«, fragte eine brüchige Stimme hinter ihr.
    Erschrocken fuhr sie herum.
    Im halbrunden Altarraum stand ein alter Mann, den sie vorhin entweder nicht wahrgenommen hatte oder der lautlos hinzugetreten war. Er trug eine braune Mönchskutte, die von einem um die Hüften gebundenen Strick zusammengehalten wurde. Sein Haar war ebenso schlohweiß wie sein Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. Der Blick seiner Augen war seltsam trüb und milchig.
    »Verzeihen Sie, Vater, ich wollte nicht stören«, erwiderte Sarah.
    »Wer bist du, mein Kind?«, fragte der alte Mönch, ohne den Blick zu wenden. Offenbar hatte er sein Augenlicht schon vor langer Zeit verloren.
    »Mein Name ist Sarah Kincaid.«
    »Du bist nicht von hier …«
    »Nein, Vater«, gab

Weitere Kostenlose Bücher