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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Sarah zu. »Ich komme von weit her …«
    »Weshalb bist du gekommen?«
    »Weil ich etwas suche, Vater. Ein Relikt aus längst vergangener Zeit – das Orakel der Toten.«
    Der Alte zuckte sichtlich zusammen. »Aus welchem Grund?«, fragte er mit brüchiger Stimme.
    »Um ein Leben zu retten«, erwiderte sie.
    »So bist du jene, von der die Prophezeiung berichtet?«
    Sarah wusste mit der Frage nichts anzufangen. Sie erinnerte sich, dass der Rabbiner in Prag etwas Ähnliches angedeutet hatte, aber es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich selbst als so bedeutend zu erachten, dass sie in alten Weissagungen eine Rolle spielte …
    »Ich weiß es nicht, Vater«, sagte sie deshalb ausweichend.
    »Hm«, machte der Alte und wandte nun doch den Kopf, sodass der Eindruck entstand, er würde sie aus seinen milchigen Augen durchdringend ansehen. »Was genau suchst du, mein Kind? Wonach sehnst du dich am meisten?«
    Sarah brauchte nur kurz zu überlegen.
    »Vergebung, Vater«, gab sie zur Antwort.
    »Und Vergebung sollst du finden«, erwiderte der Mönch und deutete auf den steinernen Altar. Dabei erhellte ein Lächeln seine ausgemergelten und von tiefen Falten durchzogenen Gesichtszüge, die plötzlich etwas Vertrautes zu haben schienen.
    »Meister Ammon …?«, sprach Sarah den Gedanken aus, der ihr spontan in den Sinn kam – als die Eingangstür hinter ihr laut knarrte. Sie fuhr herum und sah Perikles, der ihr gefolgt war, um nach dem Rechten zu sehen. Als sie sich wieder umwandte, war der alte Mönch verschwunden.
    »Vater?«
    Suchend schaute sie sich um, betrat die Apsis, deren hölzerne Trennwand vermutlich schon vor langer Zeit entfernt worden war. Von dem alten Mönch jedoch fehlte jede Spur.
    »Vater, wo sind Sie …?«
    »Alles in Ordnung?« Perikles war zu ihr getreten, einen besorgten Ausdruck im Gesicht.
    »Natürlich«, versicherte Sarah. »Ich habe mich nur eben mit einem Mönch unterhalten, der …«
    Sie unterbrach sich, als sie in Perikles’ Blick noch mehr Verwirrung keimen sah. Konnte es sein, dass sie sich das Erscheinen des Alten nur eingebildet hatte? Dass es in Wahrheit etwas tief aus ihrem Inneren gewesen war, das zu ihr gesprochen hatte? Wenn sie darüber nachdachte, so hätte sie nicht zu sagen vermocht, in welcher Sprache sich der Alte mit ihr unterhalten hatte. Sie hatte ihn einfach verstanden …
    Derlei Gedanken behagten ihr nicht, aber sie beschloss, ihnen auf den Grund zu gehen. Sie erinnerte sich, dass der Alte auf den Altar gedeutet hatte, also forderte sie Perikles auf, ihr behilflich zu sein. Gemeinsam legten sie Hand an – und tatsächlich ließ sich der Steinblock beiseite schieben!
    Knirschend bewegte sich der Altar Stück für Stück und gab den Eingang zu einem Schacht frei, der senkrecht in die Tiefe führte und in dem gähnende Schwärze herrschte.
    Während Perikles vorsichtig zurückwich, huschte ein zufriedenes Lächeln über Sarahs Züge. Für sie stand fest, dass sie gefunden hatte, wonach sie suchte.
    Den Eingang zum Orakel …

7.
    R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
N ACHTRAG
    Die unverhoffte Begegnung mit dem Mönch hat ein eigenartiges Gefühl in mir hinterlassen. Wenn der alte Mann tatsächlich nur in meiner Einbildung existiert hat, wie konnte er mir dann den Weg weisen? Wie mir etwas zeigen, von dessen Existenz ich bis vor wenigen Augenblicken noch nicht einmal etwas wusste? Diese Fragen beschäftigen mich, aber ich finde keine Zeit, um ihnen nachzugehen. Denn ich bin am Ziel der Reise angelangt, und die nächsten Augenblicke werden entscheiden, ob ich einem Traum nachgejagt bin oder ob das Elixier des Lebens tatsächlich existiert.
    Furcht droht mich zu überkommen, wenn ich in den dunklen Abgrund starre, aber meine Liebe zu Kamal hält mich aufrecht und lässt mich dem, was in der Tiefe lauern mag, mutig begegnen …
    »Und wollen wirklich allein dorthinab?«
    Perikles machte kein Hehl daraus, dass ihm der Schacht nicht geheuer war. Sarah hingegen tat alles, um ihre wahren Empfindungen zu verbergen.
    »In der Tat«, bestätigte sie, während sie dabei war, sich aus einem zwei Ellen langen Ast, den abgerissenen Ärmeln ihrer Bluse sowie etwas Öl, das sie aus den Scherben einer alten Tonlampe gekratzt hatte, eine behelfsmäßige Fackel zu bauen.
    »Und Menschen wirklich hierher gekommen, um mit den Toten zu sprechen?«, fragte Perikles weiter.
    »Ich weiß es nicht«, gestand sie offen.
    »Aber glauben es.«
    »Ich glaube, dass dort unten etwas ist«, verbesserte Sarah.

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