Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
darüber hinaus; und genau wie sie hatten sie nicht davor zurückgeschreckt, den Schatten des Jenseits zu begegnen.
    Wer in antiker Zeit den Rat der Toten suchte, der brachte Opfergaben mit, die in tönernen Gefäßen dargebracht wurden: in der Hauptsache Milch, Wein, Wasser oder das Blut von Tieren, die vor dem Beginn der Zeremonie geschlachtet worden waren. Mit Interesse hatte Sarah zur Kenntnis genommen, dass es sich bei diesen Opfergaben sämtlich um Flüssigkeiten handelte – Zufall?
    Für gewöhnlich hatten sich die Ratsuchenden der Antike durch tagelanges Fasten auf ihren Besuch in Ephyra vorbereitet, und natürlich konnte man die Berichte über Begegnungen mit der Unterwelt als Halluzinationen infolge des Ernährungsmangels abtun, wie es manche Gelehrte taten. Sarah jedoch vermutete dahinter mehr.
    Viel mehr …
    Die Treppe endete in einer Kammer, in die noch ein weiterer Stollen mündete: der Tempelraum, in den man die Ratsuchenden einst geführt hatte. In der Mitte gab es ein steinernes Becken, in das – so nahm Sarah an – einst die Opfergaben gegossen worden waren. Die Wände der Kammer bestanden aus dicht aneinander gefügten Steinen.
    Mit der Fackel in der Hand trat sie vor, klopfte systematisch die Wand ab, wie der alte Gardiner es ihr beigebracht hatte. Einen Anhaltspunkt für ein Versteck oder eine geheime Öffnung fand sie jedoch nicht. Soll dies alles sein?, fragte sich Sarah beklommen. Verbarg sich hinter dem Orakel von Ephyra tatsächlich nicht mehr als dieser eine unterirdische Raum? Hatte sie vergeblich gesucht und gehofft? Existierte gar kein Geheimnis, das es zu entschlüsseln galt?
    Vielleicht, überlegte sie mit wachsender Verzweiflung, musste auch sie ein Opfer bringen, so wie die Menschen der Antike es getan hatten …
    Einem spontanen Einfall gehorchend, löste sie die Feldflasche von ihrem Gürtel, öffnete sie und goss den Inhalt in das Opferbecken, dessen Gestein von Sprüngen durchzogen war. Wie zu erwarten gewesen war, versickerte das Wasser sofort – jedoch trat es nicht unter dem Becken hervor. Im Gegenteil war ein leises Plätschern zu vernehmen, das nahe legte, dass das Wasser unterhalb des steinernen Kessels in ungeahnte Tiefe troff …
    Sarah fackelte nicht lange. Mit einem Steinbrocken, den sie aus der Wand löste, schlug sie gegen die Wandung des Beckens. Die Sprünge vergrößerten sich dadurch, und mit einem markigen Knacken barst das Gestein entzwei. Die Halbschalen des Gefäßes brachen nach beiden Seiten auseinander und gaben den Blick auf einen weiteren Schacht frei, der senkrecht in die Tiefe führte.
    Sarah musste einen Triumphschrei unterdrücken. Das also war wohl der wahre Eingang zur Unterwelt!
    Ohne Zögern stieg sie in den Schacht, der ebenfalls über ausreichend Trittlöcher verfügte, und kletterte hinab. Ihrer Schätzung nach war der Schacht etwa doppelt so tief wie der erste. Er mündete in einen Gang, der schräg in die Tiefe führte. Nur zum Teil hatte Menschenhand dabei geholfen, ihn aus dem Fels zu schälen, in der Hauptsache schien er natürlichen Ursprungs zu sein.
    Vorsichtig die Fackel so haltend, dass sie von ihrem Schein nicht geblendet wurde, ging Sarah durch den Stollen, der nur an den wenigsten Stellen so hoch war, dass sie aufrecht stehen konnte. Selbst in gebückter Haltung musste man aufpassen, sich nicht den Kopf an den zahllosen Unebenheiten zu stoßen, die die Decke aufwies.
    In welche Richtung der Stollen führte, war schwer zu sagen; mit Betreten der unterirdischen Anlage hatte Sarah jede Orientierung verloren. Rasch griff sie in ihre Tasche, zog den Kompass hervor, den sie gefunden hatte, und wartete, bis sich die Nadel eingependelt hatte. Sofern die Anzeige verlässlich und der umgebende Fels nicht von Eisenadern durchzogen war, verlief der Stollen in nördlicher Richtung, was bedeutete, dass er unter den vom Acheron gespeisten See führte. Ob dies etwas zu bedeuten hatte, wusste Sarah noch nicht zu sagen, aber sie brannte darauf, das Geheimnis zu ergründen, dem sie in diesem Augenblick so nah war wie nie zuvor.
    Sie folgte dem weiteren Verlauf des Stollens, der eine leichte Linkskurve beschrieb und dessen Ende im flackernden Fackelschein noch immer nicht zu erkennen war. Mutig drang sie weiter vor – und hörte plötzlich ein leises Geräusch. Was genau es war, vermochte Sarah nicht zu sagen, aber es hörte sich an wie ein Knirschen und Schaben, begleitet von einem leisen Klicken.
    Vorsichtig ging Sarah weiter und hatte

Weitere Kostenlose Bücher