Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
sich schlug. Sie entdeckte zwei Skorpione an ihrem rechten Hosenbein und wischte sie ab, zertrat sie mit der Stiefelsohle. Erst als sie sicher sein konnte, dass sich nicht noch mehr Tiere auf ihr befanden, beruhigte sie sich, und ihr Atem, der rasch und stoßweise gegangen war, regulierte sich wieder.
    Mit einem letzten Blick auf die Barriere, die – wie Sarah nun zugeben musste – mehr geistiger denn körperlicher Natur gewesen war, setzte sie ihren Weg durch den Stollen fort. Bange fragte sie sich, was sie als Nächstes erwarten würde, als ihre Füße gegen ein Hindernis stießen. Sie blieb stehen und hielt die Fackel so, dass sie den Boden beleuchtete.
    Sarah musste alle Beherrschung aufwenden, um nicht laut zu schreien. Schon öfter hatte sie die sterblichen Überreste eines Menschen erblickt, aber diese befanden sich in einem besonders erschreckenden Zustand. Das Skelett, das Sarah aufgrund seiner Größe und des robusten Knochenbaus als das eines Mannes identifizierte, war vollständig erhalten und lag bäuchlings auf dem Boden, mit dem Kopf in Richtung Ausgang; aufgrund der Lage der Gliedmaßen hätte man vermuten können, der Mann hätte auf allen vieren kriechend versucht, aus dem Stollen zu entkommen. Was ihm wohl zugestoßen war? Vielleicht, vermutete Sarah, hatte er sich verletzt. Oder aber, ihm war in den Tiefen des Ganges etwas begegnet, das ihn …
    Ein dumpfer Laut drang plötzlich aus dem ungewissen Dunkel, das jenseits des Fackelscheins herrschte.
    Fast hörte es sich wie das Knurren eines der Straßenköter an, die das Londoner East End durchstreiften und – ausgehungert, wie sie waren – bisweilen sogar über Menschen herfielen, über Bettler, Betrunkene oder Kinder, die sie als leichte Beute erachteten. Und tatsächlich glaubte Sarah im nächsten Moment, ein gelb leuchtendes Augenpaar in der Dunkelheit zu erkennen.
    War es möglich? Natürlich nicht! Es konnte nur eine Täuschung sein, eine Reflexion des Fackelscheins, ein …
    Die Augen bewegten sich!
    Langsam pendelten sie hin und her, weiteten sich im einen Moment, um sich schon im nächsten zu Schlitzen zu verengen. Unvermittelt gesellte sich noch ein zweites Paar hinzu, begleitet von einem neuerlichen, feindseligen Knurren … und noch ein drittes!
    Sarahs Schritte verlangsamten sich. Der Anblick der leuchtenden Augen und die bedrohlichen Laute flößten ihr Furcht ein, und auch wenn sie nicht gewillt war, dieser Furcht nachzugeben, kam sie doch nicht umhin, beeindruckt zu sein. Was immer dort vorn im Stollen lauerte, schien tatsächlich zu leben …
    Ein Schnauben war zu hören, und der beißende Geruch von Schwefel drang ihr in die Nase, der grässliche Assoziationen weckte. Irrationale Angst stieg aus ihrem Innersten empor, der mit Argumenten kaum zu begegnen war, und zu ihrem Entsetzen erkannte Sarah, dass die Augenpaare, die unverändert auf sie starrten, keineswegs von gewöhnlicher Größe, sondern geradezu riesig waren!
    Wie in Trance ging Sarah weiter, zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der Stollen weitete sich und ging in eine Höhle über, von deren Decke zahllose Stalaktiten hingen, tödlichen Speerspitzen gleich. Und unmittelbar darunter lauerte die bei Weitem schrecklichste und gefährlichste Kreatur, der sie in ihrem Leben bisher begegnet war:
    Ein riesiger, von schwarzem Fell überzogener Körper, der auf vier pfeilerdicken Beinen ruhte und dessen geschuppter Schwanz unruhig hin und her peitschte. Ein Hals, stark wie eine Säule, der sich in der Mitte teilte, und nicht einen, sondern drei Köpfe trug – entsetzlich anzusehende Schädel, von dunklem Fell überzogen und mit dem Durchmesser eines Wagenrads. Aus den zähnestarrenden Mäulern drang schwefeliger Atem, die gelben Augen starrten in ebenso unergründlichem wie maßlosem Hass.
    Obgleich Sarah einer Kreatur wie dieser noch nie zuvor begegnet war, wusste sie genau, worum es sich handelte.
    Es war die Bestie, die den Eingang zur Unterwelt bewachte.
    Der Kerberos …

8.
    »Wo ist sie?«
    Wieder und wieder erklang die Frage, hallte wie ein Echo durch Perikles’ Bewusstsein, aber wie zuvor sträubte er sich mit aller Macht dagegen, sie zu beantworten.
    »Ich weiß es … nicht«, stieß er heiser hervor, während der bittere Geruch von verbranntem Fleisch in seine Nase stieg.
    Seinem Fleisch …
    Sie hatten vier Pflöcke in den Boden geschlagen und seine Hand- und Fußgelenke daran festgebunden. Zu Beginn hatten sie sich damit begnügt, ihn mit Hieben

Weitere Kostenlose Bücher