Am Ufer Des Styx
»Was genau, das werde ich herausfinden.«
»Sein mutige Frau, Lady Kincaid«, erkannte der Makedone an.
»Mutig?« Sie hob die Brauen. »Ich dachte, ich wäre seltsam.«
»Verzeihen, dass gesagt.«
»Schon vergessen. Und nun mach dich auf den Weg.«
»Sicher, dass nicht bleiben?«
»Sicher«, bestätigte sie. »Suche Hingis, aber geh kein unnötiges Risiko ein. Wenn du herausfinden solltest, dass er gefangen wurde, so kehre zurück und erstatte mir Bericht. Versuch auf keinen Fall, ihn auf eigene Faust zu befreien, hörst du?«
»Was wollen unternehmen?«
»Ich kenne Leute, die großen Einfluss haben«, antwortete Sarah.
»Freunde von Ihnen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht.«
»Und wenn … Doktor tot ist?«
Sarah zögerte nicht mit der Antwort. »Dann begrab ihn«, erwiderte sie hart, »und markiere die Stelle.«
»Verstanden.« Er nickte. »Verspreche, vorsichtig sein.«
»Endáxei.« Sarah rang sich ein Lächeln ab. »Keine Entlohnung der Welt kann dich für das entschädigen, was geschehen ist, aber wenn wir wohlbehalten nach Saloniki zurückkehren, werde ich die vereinbarte Summe verdreifachen.«
»Endáxei.« Er grinste. »Wird Ehefrau freuen.«
»Vor allem will sie, dass du am Leben bleibst, hörst du?«, schärfte Sarah ihm ein.
»Sie auch, Lady Kincaid. Soll wirklich nicht begleiten …?«
»Nein.« Sarah schüttelte den Kopf. Auf eine unerklärliche Weise war ihr immer klar gewesen, dass sie diesen Weg allein würde gehen müssen. Entweder sie fand, wonach sie suchte, und kehrte mit einem Heilmittel für Kamal zurück, oder der graue Hades sollte sie verschlingen und nicht wieder freigeben. Die Strafe schien ihr angemessen, denn wie einst Prometheus hatte sie mit der göttlichen Flamme gespielt, ohne die Folgen zu bedenken …
»Dann geben auf sich Acht«, meinte Perikles. »Dies« – dabei deutete er in den Schacht – »nicht nehmen leichtfertig.«
»Ich weiß«, sagte sie nur. »Leb wohl, Perikles.«
»Hoşça kalin, Lady Kincaid«, erwiderte er, und in einer spontanen Geste, die nicht ihrem Stand, wohl aber der Situation angemessen schien, umarmten sie einander zum Abschied. Als sie sich wieder voneinander lösten, glaubte Sarah, es in den Augen des Führers feucht blitzen zu sehen. Offenbar rechnete Perikles nicht damit, sie noch einmal lebend wiederzusehen.
Sie nickte ihm noch einmal zu, dann nahm sie die improvisierte Fackel und begab sich zum Schacht, in dessen Wand in regelmäßigen Abständen Tritte eingelassen waren. Nur einen Augenblick zögerte sie – dann hatte der dunkle Schlund sie verschlungen.
Perikles wartete noch, bis der Lichtschein der Fackel verblasst war, dann wandte er sich zum Gehen. Alles in ihm sträubte sich dagegen, die Engländerin alleine zu lassen, die er trotz eines gewissen Argwohns respektieren und schätzen gelernt hatte. Aber ihre Anweisungen waren klar, und die Belohnung, die sie ihm versprochen hatte für den Fall, dass er Friedrich Hingis fand, nicht unbeträchtlich. Was also hätte er tun sollen?
Seufzend wandte er sich ab und verließ die alte Kirche, ging zurück zum See, wo das Boot am Ufer lag. Wind strich über die Hügelkuppe und ließ die nahen Bäume rauschen, trieb welkes Laub über die Ruinen. Perikles’ Gedanken schweiften ab, und alles Mögliche kam ihm in den Sinn. Vor allem an Hanna, seine Frau, musste er denken, und an seine Kinder, die zu Hause auf ihn warteten. Vielleicht, sagte er sich, war es an der Zeit, sich eine andere Arbeit zu suchen, die weniger gefährlich war und ihn weniger weit von zu Hause wegführte.
Er erreichte das Boot und stieß es vom Ufer ab. Wankend glitt es hinaus auf den See, und Perikles stieg ein. Mit kräftigen Ruderschlägen trieb er es hinaus auf die spiegelnde Wasserfläche, zurück zur Mündung des Flusses.
Der Schacht reichte nicht sehr tief. Schon nach einigen Yards endete er und ging in einen Treppengang über, der sich über zahllose Stufen nach unten wand, immer weiter hinab ins Innere des Hügels. Die Stollenwände waren gemauert und hier und dort mit griechischen Buchstaben versehen, die jemand eingeritzt hatte. Sarah wurde bewusst, dass dieser Gang seit langer, seit sehr langer Zeit nicht mehr benutzt worden war, und unwillkürlich fragte sie sich, was jene Menschen empfunden haben mochten, die ihn vor ihr beschritten hatten.
Wie sie selbst hatten auch sie nach Antworten gesucht; wie sie hatten sie sich nicht gescheut, dafür an Grenzen zu gehen und sogar noch
Weitere Kostenlose Bücher